Wenn du mir nachfolgen willst…

22. Sonntag im Jahreskreis A – Jer 20, 7-9 – Mt 16, 21-27

Die Schlagzeilen der Zeitungen der letzten Wochen hier in London handelten oft von dem ehemali­gen Lybischen Führer. Mich beschäftigte die Frage, warum ein Mann, der so viel Reichtum und Macht angehäuft hat, sich nicht zur rechten Zeit in Sicherheit gebracht hat, um wenigsten einen Teil seines Reichtums und seiner Macht weiter genießen zu können. Leider scheint sein aufgebla­sener, fehlgeleiteter Instinkt die Oberhand behalten zu haben. Die Möglichkeiten, die er noch vor ein paar Monaten gehabt hatte, wird er wohl nicht mehr wahrnehmen können. „Wer sein Leben ret­ten will, wird es verlieren“ (Mt 16, 25a).

Auf der anderen Seite des Erdballes, auf dem Indischen Subkontinent, beherrschte ein armer, un­verheirateter Mann (Anna Hazare) die Schlagzeilen. Sein Hungerstreik, unterstützt von Hundert­tausenden, machte ihn berühmt und setzte die Indische Regierung unter starken Druck, endlich durchgreifende Gesetze gegen die Korruption zu erlassen. Ein einzelner Mensch schaffte es, die größte Demokratie der Welt zu erpressen! „Wer sein Leben um meinetwillen (und meiner Werte willen) verliert, der wird es gewinnen“ (Mt 16, 25b).

Beides sind Geschichten von Standhaftigkeit und Hingabe. Ihr Ergebnis aber – auch wenn es noch nicht sicher fest­steht – dürfte sehr unterschiedlich ausfallen. In einem online-Wörterbuch finde ich vier mögliche Bedeutungen für das (englische) Wort ‘devo­tion’ – (deutsch ‘Hingabe, Aufopferung, Frömmigkeit’). Ich reduziere die vier Definitionen auf zwei:

a) ernsthafte Bindung an eine Sache, Person, usw.

b) eine Form des Gebetes oder Gottesdienstes zu einem speziellen Zweck.

Meine Reflexionen heute handeln von der Bedeutung dieser beiden Punkte für unseren Christli­chen Lebensweg – Jünger Jesu sein, Christliche Spiritualität im täglichen Leben… Es geht um Spi­ritualität, wie sie sich aus den Lesungen des heutigen Sonntags ableitet.

Spiritualität bedeutet, sich von Gott verführen zu lassen                                                   

„Wenn einer mir nachfolgen will…“(Mt 16, 24a).

Die Worte des Propheten Jeremias in der heutigen ersten Lesung (Jer 20, 7-9) sind sehr persön­lich und sehr entschieden: „Du, Herr, hast mich verführt, und ich habe mich verführen lassen. Du hast mich überwältigt. Du warst der Stärkere“ (20, 7). Der Mystiker Johannes vom Kreuz sagt es in seinen ‘Geistlichen Liedern’ so:

Wo hast du dich versteckt, Geliebter und hast mich seufzend zurückgelassen?     

Du bist geflohen wie der Hirsch, nachdem du mich verwundet hast. 

Ich ging hinaus, um dich zu rufen, aber du warst fort.

‘Verführt werden’ enthält zwei Bedeutungsaspekte: von etwas angezogen werden und sich danach als getäuscht zu erleben. Tatsächlich gibt es die entsprechende Übersetzung unseres Jere­mia-Textes auch: „O Herr, du hast mich getäuscht, und ich habe mich täuschen lassen“.

Das Schöne zieht uns an. Ja, Gott ist schön. Er zieht uns an. Er zieht uns zu sich. Die Schriften des Alten Testamentes sind voll von konkreten Gottesbildern, die zeigen, wie Menschen von ihm angezogen werden. Ein typisches Beispiel ist die Berufung des Moses: „Der Engel des Herrn er­schien ihm in einer Flamme mitten in einem Dornbusch. Moses sah, der Busch brannte, aber er verbrannte nicht. Moses sagte sich, ‘Ich will hingehen und sehen, warum der Busch nicht ver­brennt’. Als Gott sah, dass er hinging, um es sich anzusehen, rief er ihn mitten aus dem Dorn­busch an. ‘Moses, Moses!’ sagte er“ (Ex 3, 2-4).

In ihrem Gotteslob beschreiben die Menschen die Schönheit und Anziehungskraft Gottes: „Kostet und seht, wie gut der Herr ist“ (Ps 34, 8). „Wie köstlich sind deine Ruheplätze, Gott der Heer­scha­ren! Mein gan­zes Wesen verlangt und verzehrt sich nach deinen Hallen“ (Ps 84, 1). „Die Wei­sun­gen des Herrn sind wahr und gerade. Jede ist mehr wert als  Gold, mehr wert als das feinste Gold. Seine Worte sind süßer als Honig, der aus den Waben rinnt“ (Ps 19, 9-10).

Augustinus drückt dieses Gefühl aus, wenn er in seinen ‘Bekenntnissen’ sagt: „Spät habe ich dich geliebt, du Schönheit, schon immer da und doch immer jung. Spät habe ich dich geliebt“ (Kapitel 10).

Und jetzt sagt Jeremias: „Herr, du hast mich verführt, und ich habe mich verführen lassen.“ Wie passt das zusammen? Liegt es vielleicht daran, dass Gott uns seine Schönheit nicht nur auf den Bergeshöhen, sondern auch im Trubel und Durcheinander des Markt­platzes suchen lässt? Liegt es daran, dass Gottes Schönheit von einer Wirk­lichkeit ist, die verborgen sein kann wie die Schönheit des Schmetterlings in der abstoßenden Ge­stalt der Raupe?

Spiritualität ist die Fähigkeit durchzuhalten                                                                         

„Wenn einer mein Jünger sein will, muss er sich verleugnen, sein Kreuz auf sich nehmen und mir nachfolgen“ (Mt 16, 24).

In unserem Leben begegnen wir zwei Arten von Schönem. Die eine Art ist verlockend und garan­tiert schnellen Genuss. Die andere Art von Schönem ist mit einer Herausforderung verbunden und ver­spricht Genugtuung, Befriedigung, aber nicht sofort. Psychologen unterscheiden dement­spre­chend zwei Arten von positiven inneren, gefühlsmäßigen Zuständen: Freude und Genugtuung. Freu­de ist das sofort einsetzende Gefühl der Euphorie, ausgelöst durch einen Genuss. Genug­tu­ung ist eine tiefere und später einsetzende Befriedigung. Freude hat mit den äußeren Sinnen zu tun; Genugtuung ist ein innerer Vorgang. Freude kann plötzlich und stark vorhanden sein, kann aber auch schnell verschwinden. Demgegenüber hat die Erfahrung der Genugtuung den Charakter eines Plateaus, von dem sich das anhaltende Bewusstsein von Lebenssinn speist.

Ich meine, was wir in der Christlichen Tradition ‘Satan’ nennen, ist die Neigung in uns, eher Freude als Genugtuung zu suchen. Die Psychologen rätseln immer noch darüber, warum wir Men­schen so bereitwillig nach schneller Freude suchen anstatt nach Genugtuung, obwohl wir doch wis­sen, dass Genugtuung, die durch ein an Werten orientiertes Leben gewonnen wird, viel tiefer reicht als die Freude, die wir durch Suchen nach Genuss befriedigen (siehe die Werke von Selig­man und Csik­szentmihalyi).

Wenn Gott uns zu sich zieht, verspricht er uns nicht unmittelbare Freude, sondern eine Freude, die Zeit braucht und tiefer reicht, Genugtuung, tiefe Befriedigung. Wenn wir in Gottes Gegenwart nach schnellem Genuss, nach sofortiger Freude suchen wollen, dann werden wir enttäuscht. Jesu Wor­te im heutigen Evangelium laden uns ein, nach tiefer Freude zu suchen und dabei auch vorüber­ge­hendes Leiden in Kauf zu nehmen. Das heutige Evangelium ist die Fortset­zung desjenigen vom letz­ten Sonntag, indem Jesus seine Jünger fragt: „Und ihr, für wen haltet ihr mich?“ und wo Petrus seine glaubensstarke Antwort gibt: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“. Heute spricht Jesus wieder einmal von seinem nahe bevorstehenden Leiden und Tod. Für seine Jünger ist das nicht akzeptabel. In ihrem Verständnis – vielleicht ist es auch unseres – ist Glück die Abwe­senheit von Leid. Petrus ist wieder einmal ihr Sprecher: „Da sei Gott vor, das darf dir nicht gesche­hen“ (Mt 16, 22). Und Jesus spricht seine strenge Zurechtweisung. „Weg von mir, hinter mich, Sa­tan“ (Mt 16,23)! Verlocke mich nicht mit deiner seichten Auffas­sung von Leben und Wirklichkeit. Glück ist nicht einfach die Abwesenheit von Leid. Manchmal ist es sogar so, dass ech­tem Glück Leid vorausgegangen ist. Es ist wie mit dem Samenkorn in der Erde – es muss sterben, um neues Leben entstehen zu lassen. „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren“ (Mt 16, 25a). Wer wahre Freude in der Erfüllung seichter Bedürfnisse sucht, wird sie niemals finden. Auch der Menschen­sohn ist der Realität des Leidens unterworfen – auch wenn es hart erscheinen mag. Aber gerade hierin ist die Bedeutung begründet, die er für den Sinn des menschlichen Lebens ge­won­nen hat.

Spiritualität bedeutet, Gott um seiner selbst willen zu suchen

Ist unser Gott also ein grausamer Gott, ein Gott, der Freude am Leid hat? Nein! Er verspricht Be­loh­nung: „Der Menschensohn wird kommen mit seinen Engeln in der Herrlichkeit des Vaters. Und wenn er kommt, wird er jeden für sein Verhalten belohnen“ (Mt 15, 27). Aber denkt daran, diese Be­lohnung ist nicht sofort da, sie ist nichts Äußerliches, sie hat keinen flüchtigen Charakter. Es dau­ert vielleicht, bis sie da ist, aber sie kommt mit Sicherheit. Sie wird umfassend sein und ewig wäh­ren.

Am Anfang sprach ich über ‘devotion’ – Hingabe, Frömmigkeit – als ‘einer Form von Gebet und Got­tesdienst zu einem speziellen Zweck‘. Hierin liegt der Unterschied zur Spiritualität. Frömmigkeit als ‘devotion’ erkenne ich in manchen Formen von Novenen, Messstipendien, Bittgebeten, auch in einigen Formen des Fastens. Alles wird getan, um Gott zu konditionieren, ihn im Sinne unse­rer Wün­sche zu beeinflussen: ‘Ich tue dies für dich; also ist es jetzt an dir, das für mich zu tun’.

Warum gehen wir zur Kirche? Warum beten wir? Warum tun wir verschiedenste Werke der Fröm­migkeit? Möchten wir, dass Gott unsere Probleme löst? Soll er von uns nehmen, was unser Mensch­sein wesentlich ausmacht? Wenn wir im Gebet Trost suchen, suchen wir dann lediglich ein schönes Gefühl? Was tun wir, wenn der Trost ausbleibt? Was mache ich, wenn ich nur Einsamkeit und Wüste erfahre? Höre ich dann auf mit Gebet und Gottesdienst?

Was Jesus im heutigen Evangelium sagt, kann in den Ohren seiner Jünger entmutigend geklungen haben: „Wenn einer mein Jünger sein will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16, 24). Jesus lädt sie ein – wie er auch uns einlädt – Gott allein aus dem Grund zu su­chen, weil er Schönheit ist in sich selbst. Das ist der Weg, unser Leben zu retten und tiefe Freude zu finden. Dazu sind wir geschaffen. Dies ist Auferstehung. Dies ist Leben in Fülle. Dies ist die Belohnung, die uns erwartet.

Übersetzung Alfons Nowak