‘Matatu’ werden die öffentliche Busse in Kenia genannt. ‘Manyanga’ und ‘Mathree’ sind Bezeichnugen, die im Jargon benutzt werden.
Matatu Nr. 24 verlässt den Busbahnhof. Mein Freund und ich finden uns eingepfercht in der Mitte des ‘Manyanga’. Unsere religiös getriggerte Disziplin zwang uns, „rechtzeitig da zu sein“ und uns lieber in die Masse der Wartenden zu mischen als in der Schlange zu warten.
Der Matatu kann kaum 45 Menschen transportieren und ist nun voll gestopft mit 70 bis 75 Personen. Ich kann mich gar nicht ganz gerade machen. Ich bin zu groß für den ‘Mathree’. Ich verstehe nicht, wie manche meiner Freunde, die größer sind als ich, in diesen elenden Fahrzeugen reisen können. Mein Körper ist völlig aus dem Gleichgewicht. Während meine Füße versuchen, auf dem Boden Halt zu bekommen, wird mein Körper zusammen gequetscht. Selbst Pferde, die von den Wazungu (den Weißen) in Karen gezüchtet werden und Hunde, die in Lang’ata leben, werden besser transportiert als wir. (Karen und Lang’ata sind reiche Vororte Nairobis, in denen es nicht ungewöhnlich ist, dass Haustiere in luxuriösen Autos spazieren gefahren werden.)
Aber dennoch, trotz der Hitze all der menschlichen Körper um mich herum, trotz des Geruchs von Schweiß, trotz der Schmerzen in dieser Enge, kann ich nachdenken… (Es funktioniert: Um einer quälenden Wirklichkeit zu entfliehen, ist die einfachste Lösung, an etwas Schönes zu denken.)
Ich schaue mir die Leute im Matatu an, jeder/jede lebt in seiner/ihrer eigenen Welt.
Da ist der Fahrer: Er scheint recht selbstzufrieden. Er nimmt gar nicht wahr, was es heißt, in der Menge zu sein. Er erinnert mich an manche unserer Kirchenführer. Er weiß, wohin die Fahrt geht. Er weiß, wohin die Leute wollen. Die Situation der einfachen Menschen berührt ihn wenig. Irgendwie trägt er Verantwortung für die Lage, wie sie ist, aber es stört ihn nicht weiter. Ihm geht es gut, das andere rauscht an ihm vorbei.
Da sind die Ordner: Raue, kräftige Gesellen, die die Leute in den Bus schieben, Anweisungen geben, herum schreien… Auch sie gehören nicht zum gemeinen Volk. Sie haben ihren Platz nahe der Tür. Sie haben Spaß, lachen, schaukeln hin und her und genießen ihren Job.
Sie sind wie manche unserer Priester, die befehlen, anordnen, predigen. Die genau wissen, was die Leute tun sollen, aber selber keine Ahnung haben, wie es den Leuten wirklich geht.
Dann sind da die, die einen Sitzplatz ergattert haben: ‘Die Christen mit sicherem Platz im Himmel.’ Selbstgefällig und zufrieden, verächtlich auf die sehend, für die es nur noch Stehplätze gab. Sie halten sich für die wenigen Auserwählten. Einige von ihnen äußern unbarmherzig ihren Ärger, wenn jemand auf sie fällt, während der Bus von rechts nach links schaukelt.
Und zum Schluss das gemeine Volk: (Ich freue mich, einer von ihnen zu sein – zumindest jetzt.) Es ist hilflos, macht kein Aufhebens von sich, quält sich ab, sein Überleben zu sichern.
Ich frage mich, wo die Leute aussteigen.
Nyayo-Stadion: Die Ordner schieben noch zwei oder drei Leidensgenossen in den überfüllten Bus.
Wilson-Flughafen: Keiner steigt aus.
Barracks: Keiner rührt sich.
Bomas of Kenia: Zwei oder drei verlassen den Bus.
„Kuwinda!“ schreien die Ordner. Fast alle steigen aus. Jetzt gibt es Luft zum Atmen.
Der Matatu fährt am Tangaza College vorbei, (Theologisches Zentrum für Religiöse Studien) – meine Alma mater. Scham steigt in mir hoch. Ist es nicht ‘Importierte Theologie’, die ich betreibe? ‘Importierte Theologie’ in einem ‘Importierten Gebäude’? Wie komfortabel habe ich es in Tangaza inmitten meiner Bücher. Und bekomme kaum etwas mit von den Leuten im Kuwinda-Slum direkt in meiner Nachbarschaft. So wie der Fahrer im Bus. Oder die Ordner!
Wie kann ich morgen auf der Kanzel stehen und denen in ehrlicher Weise predigen, die heute mit mir im Matatu eingequetscht waren. Machen meine schönen Worte irgendeinen Sinn?
Ich stelle mir vor, der Mann, mein Nachbar aus dem Bus, kommt am Sonntag in die Kirche. Er hat eine harte Woche Überlebenskampf hinter sich. Die Matatu-Fahrt ist davon noch das geringste Übel. (Für mich war diese Fahrt lediglich ein Abenteuer, für ihn gehört sie zu seinem täglichen Leben.)* Ich spreche dann in der Kirche von ’Nächstenliebe’, von der ‘Gnade Gottes’, von all diesen religiösen Begriffen, die man mir in Tangaza beigebracht hat. Kann er damit überhaupt irgend etwas anfangen?
Er erlebt seinen Nächsten als jemanden, mit dem er ständig wetteifern muss, damit das Überleben gelingt. Der Andere ist Konkurrent bei der Job-Suche, beim Wetteifern um einen Platz im Matatu, beim Einreihen in eine der vielen Schlangen. Wie kann er da seinen Nächsten lieben?
Er muss für so wenig so hart arbeiten, während andere, die nicht arbeiten, im Wohlstand leben, (ich bekenne voller Scham, dass ich zu dieser Gruppe gehöre)
an einer Hand hält er seine kranke Frau, an der anderen die schulpflichtigen Kinder…
Wie soll er da Gottes Liebe verstehen können?
Was kann er unter ‘Erlösung’ verstehen?
Ich bin sicher, für so einen wie ihn kann es keine Hölle nach diesem Leben geben. Dafür hat er schon genug Hölle in diesem Leben erlebt.
Meine Gedanken formen sich zu einem Gebet:
Herr, was hat er verbrochen, dass er so um sein Überleben kämpfen muss?
Und womit habe ich verdient, dass ich hier so komfortabel sitzen kann?
Hilf mir, dass ich es schaffe, freundlich zu sein, wenn er mir im Matatu auf meinen Fuß tritt.
Hilf mir, wenn ich im Studium meiner theologischen Bücher versunken bin, dass ich meine Mitreisenden im Matatu-Bus nicht vergesse.
Und Herr, vergib mir meine Gleichgültigkeit und meine Selbstgefälligkeit.
*Im englischen Text benutzt Selvam ein deutsches Wort. Er schreibt: …, for him it is part of his ‘weltanschauung’.
Sahaya G. Selvam in ‘Beyond the Ordinary’ 2006
Übersetzung Alfons Nowak