8. Sonntag im Jahreskreis A
Hier in Nairobi lebe ich in einer Gemeinschaft, die sich um Jugendliche kümmert und Besinnungstage mit ihnen durchführt. Als ich vor sechs Jahren zu dieser Gemeinschaft gehörte, legten wir auf ihrem Gelände ein Labyrinth an. Es lädt Menschen ein, in innerer Sammlung hindurch zu gehen und die Erfahrung von Ruhe und Frieden zu machen. Unser Labyrinth haben wir als einen Garten des Gebetes konstruiert – man geht durch einen Eingang hinein, läuft den Weg bis zur Mitte und geht dann auf einem anderen Weg aus dem Labyrinth hinaus, wobei man nicht weit entfernt vom Eingang wieder herauskommt. Auf den gewundenen Wegen gibt es Stationen, die zum Verweilen einladen, um dort in innerer Sammlung einige symbolische Handlungen zu vollziehen. Als ich damals die Hinweise für die Stationen verfasste, hatte ich mir kaum Gedanken dazu gemacht, welch starken Einfluss diese Übungen auf jemanden haben könnten, der sie mit Sorgfalt durchführt. Das Thema der dritten Station in diesem Labyrinth ist ‘Umgang mit meinen Sorgen’. Es gibt hier einen kleinen Teich und Kieselsteine, die drum herum liegen.
Einmal nahm ich einen Freund, einen Priester, mit in dieses Labyrinth und bat ihn, diese symbolischen Handlungen als religiöse Übung durchzuführen. Im Anfang war mir unwohl dabei, er aber fing an, es zu genießen. Bei der dritten Station begann ich meine Hinweise so (vielleicht können sie es in ihrem Garten auch versuchen):
Setze dich hin. Schau auf das Wasser vor dir. Wasser kann innere Heilung bewirken. Bist du gestresst? Gibt es etwas, was dich im Augenblick belastet? Worüber bist du in Sorge?
Nimm einen kleinen Kieselsteine. Er ist leicht. Er hat keine scharfen Kanten. Er tut dir nicht weh. Halte den Stein mit zwei Fingern. Halte ihn fest. Halte ihn, so lange du kannst. Schaue auf den Stein. Siehst du, wie der Stein immer schwerer wird? Siehst du, wie deine Hand immer mehr zu schmerzen anfängt? Halte den Stein fest. Lasse ihn noch nicht fallen.
So geht es auch mit Sorge und Angst. Im Anfang nehme ich sie kaum wahr. Entscheide ich mich, sie festzuhalten, dann fangen sie an, mir Stress zu machen. Ich füge mir selbst Schaden zu.
Welche Sorge hast du in der letzten Zeit mit dir herumgetragen? Benenne diese Sorge. Jetzt schau dir den Stein an. Stelle dir vor, dieser Stein ist deine Sorge. Konzentriere dich darauf. Fühle das Gewicht des Steines – fühle das Gewicht der Sorge.
Halte den Stein über das Wasser. Nun lasse ihn, sanft und ohne jede Anstrengung, los. Fühle, wie deine Sorge im Wasser verschwindet. Fühle dich erleichtert. Fühle dich frei. Genieße diesen Moment.
Nach einer kurzen Pause fragte ich ihn mit gedämpfter Stimme: “Wie fühlst du dich jetzt?” Spontan antwortete er: “Erleichtert. Befreit!”
Im heutigen Evangelium, es ist die Fortsetzung der Bergpredigt, sagt Jesus zu uns: Sorgt euch nicht. Seid frei!
Was ist Sorge?
Es ist der geistige Vorgang des ständigen Wiederkäuens einer negativen Erfahrung. Es ist das fortgesetzte Denken an eine negative Erfahrung, wobei man sich auf das konzentriert, was nicht möglich ist und was für Folgen das hat. Ein Wörterbuch definiert Sorge so: ‘Sich selbst mit störenden Gedanken zu quälen’. Für mich ist Sorge eine leichtere Form von Angst und hat mit Stress und Verletzungen zu tun.
Man kann das gewohnheitsmäßige Sich-Sorgen einigen Persönlichkeitsmerkmalen zuordnen. Man kann es aber auch als Ergebnis eines bestimmten Lebensstils auffassen. Nach meinem Eindruck gibt es Menschen, die immer wieder Dringendes zu erledigen haben, Dinge, die aber im Rahmen ihrer Lebensziele unwichtig sind. Solche Menschen entwickeln eine Haltung übermäßiger Sorge, die schließlich in Angst und Stress übergeht. Es kann aber auch an mangelnder Fähigkeit liegen, seine Zeit und seine Arbeit zu planen. Auf der anderen Seite kennzeichnet es Menschen, die sich nicht so viel sorgen, dass sie sich auf für sie und ihre Lebensziele wichtige Aufgaben konzentrieren und dass sie ihre Aufgaben nie als so dringend erleben. Die Frage stellt sich: Wie entscheide ich im täglichen Leben, was wichtig und was weniger wichtig ist? Für mich persönlich ist die Antwort einfach: Wenn ich die Ziele meines Lebens, meine Lebensaufgabe klar habe, dann ist das, was zur Erreichung meiner Lebensziele beiträgt, wichtig und alles andere gehört an den Rand meines Interesses! Nach dem Psychologen William Damon sind Lebensziele Ziele, die über das Interesse des gegenwärtigen Selbst hinausgehen.
Die einfache Erkenntnis der populären Psychologie passt durchaus zu dem, was meiner Meinung nach Jesus im heutigen Evangelium sagt. Jesus fordert uns auf, Prioritäten zu setzen: “Keiner kann zwei Herren dienen” (Mt 6, 24). Jesus lädt uns ein, unser Wertesystem zu klären: “Sucht zuerst das Reich Gottes” (Mt 6, 33); “Darum sage ich euch, sorgt euch nicht um euer Leben und darüber, was ihr essen sollt, noch um euren Leib und was ihr anziehen sollt” (Mt 6, 25). Was die heutige Psychologie sagt, können wir in die Sprache Jesu so übersetzen: Wenn ich will, dass es mir wirklich wohl ergeht, dann müssen meine Lebensziele von den Werten des Reiches Gottes bestimmt werden! Aber bevor wir weitermachen, ist hier eine Warnung angebracht.
Was sagt Jesus nicht?
Er unterstützt nicht Lethargie oder Trägheit. In der christlichen Tradition wurde die Trägheit, auf Latein acedia, zu den ‘Todsünden’ gezählt. Trägheit bedeutet emotionale oder spirituelle Apathie, physische und emotionale Inaktivität. Sie bedeutet, die Geschenke Gottes nicht zu nutzen und, in tieferem Sinne, nicht mit der Gnade Gottes zusammen zu arbeiten. An anderer Stelle im Matthäus-Evangelium, in dem Gleichnis von den Talenten (Mt 25, 14-29), verurteilt Jesus ausdrücklich Lethargie und Trägheit.
Vor einiger Zeit hat mich jemand darauf aufmerksam gemacht, dass es erhellend ist, sich das Beispiel ‘der Vögel des Himmels’ und ‘der Blumen des Feldes’ genauer anzusehen: Die Vögel des Himmels sitzen nicht einfach da und warten, dass ihr Schöpfer ihnen etwas zu fressen bringt. Sie bleiben nicht untätig – sie fliegen herum, suchen nach Nahrung – und bekommen so das, was ihr Schöpfer für sie vorgesehen hat. Und die Blumen des Feldes lassen gemäß ihrer Natur ihren Stoffwechsel arbeiten. Sie nehmen auf, verarbeiten, leisten die Photosynthese, und sie wachsen.
Zurück zu der Sorge. Ich neige dazu, dass Jesus damit einen geistigen und einen spirituellen Zustand meint. Zunächst zum geistigen Zustand. Jesus ergänzt ein weises Wort. “Kann jemand von euch durch all sein Sorgen auch nur eine winzige Lebensspanne zu seinem Leben hinzufügen” (Mt 6, 27)? Ich will es an einem kleinen Beispiel deutlich machen: Stellen sie sich vor, sie befinden sich auf einer Reise. Sie wollen zu einem Ort, der 200 km von ihrem Zuhause entfernt ist, und sie wollen eine Woche bleiben. Als sie 50 km weit gefahren sind, fällt ihnen ein, dass sie das Bügeleisen nicht ausgeschaltet haben. Oder zumindest sind sie sich nicht sicher, ob sie es ausgeschaltet haben. Was tun? Man könnte sich Sorgen machen, könnte alles erwägen, was passieren könnte. Würde es aber irgendetwas ändern? Die andere Möglichkeit ist, sich auf das zu konzentrieren, was man tun kann: Gibt es irgendjemanden, den ich anrufen und informieren kann? Gibt es einen Nachbarn, den ich anrufen kann? Sollte das alles nicht möglich sein, ist es dann nicht besser, sich auf das Fahren zu konzentrieren, um weiteres Missgeschick zu vermeiden? Dieses einfache Beispiel kann man auf komplexere Situationen des Lebens übertragen.
Die erste Stelle in meinem Leben nimmt Gott ein
Wichtiger ist, was die Botschaft Jesu im spirituellen Bereich bedeutet, einem Bereich, der unsere geistige Verfassung, unser tägliches Funktionieren und unser Wohlbefinden beeinflusst. Der größte Teil unseres Sorgens könnte ein Symptom des ‘Atlas-Komplexes’ sein. Atlas war in der Griechischen Mythologie ein Gott, der im wörtlichen Sinne die Welt auf seinen Schultern trug. Menschen, die sich zu viel sorgen, neigen dazu, sich wie Atlas zu verhalten und die ganze Welt auf ihre Schultern zu nehmen. So ist der Atlas-Komplex ein geistiger Zustand, in dem jemand meint, für die ganze Welt verantwortlich zu sein. Als Konsequenz daraus leiden diese Menschen an dem ständigen Gefühl, dass diese Aufgabe für sie zu schwer ist und dass das ganze Leben ein einziges Problem ist. Diese Verfassung kann Ausdruck eines spirituellen Stolzes, eines Mangels an Vertrauen in den Gott, der Herr der Geschichte ist, der das Universum lenkt.
Umgekehrt kann eine spirituelle Umkehr alles in die richtige Perspektive rücken. Ja, ich bin als einzigartiger Mensch erschaffen. Ich habe meinen besonderen Platz im Universum. Ich kann sinnvolle Entscheidungen treffen. Ich kann meine Existenz auf Gott ausrichten, der das Ziel meines Lebens ist. Und Gott ist wirklich da! Er ist das Zentrum des Universums. Und er erhält alles am Leben. Er ist der Sinn meines Lebens. Er versichert mir immer wieder: “Ich bin bei dir” (u.a. Gen 26, 24; 28, 15; 48, 21; Ex 6,6; Jes 41,10; 43, 5; Jer 1,8; Hag 1, 13; Mt 28, 20). “Fürchte dich nicht” (Mt 1, 20; 28, 10; Lk 1, 13, 30; 2, 10; 5, 10…)!
Im heutigen Evangelium lädt Jesus uns ein: uns für Gottes Wirken zu öffnen, indem wir uns immer wieder dafür entscheiden, unser Lebensziel zu verwirklichen.
Ein Zitat von Theresa von Avila fasst alles zusammen:
Nichts beunruhige dich,
Nichts ängstige dich.
Alles vergeht,
Gott allein bleibt.
Geduld gelingt alles.
Wer Gott hat,
Dem fehlt nichts.
Gott allein genügt.
Sahaya G. Selvam, SDB
Nairobi, 27. Februar 2011
Übersetzung Alfons Nowak