32. Sonntag im Jahreskreis
Mk 12, 38-44
Als junger Priester, bald nach meiner Weihe, arbeitete ich fast drei Jahre lang in einer ländlichen Pfarrei im südlichen Hochland von Tansania. Damals suchte ich jeden Freitag, von einer Katechetin begleitet, das Bezirks-Krankenhaus auf und spendete dort die Sakramente. Auch besuchte ich die Alten und Kranken bei ihnen zu Hause. An einem dieser Freitage traf ich im Krankenhaus auf eine ältere Frau, die sehr schwer krank war. Sie war Ostern getauft worden und war in meiner Katechumenen-Gruppe gewesen. Als ich ihr die Krankensalbe gab, stellte sich in mir irgendwie das Gefühl ein, dass mit ihr alles wieder in Ordnung käme. So sagte ich ihr, nachdem wir gebetet hatten, – sie konnte kaum ihre Augen öffnen – dass sie sich wieder erholen würde. Und tatsächlich, sie wurde gesund. Nach einigen Wochen lud sie mich zu einem Essen ein. Ich ging zusammen mit der Katechetin zu der kleinen Hütte, wo die alte Frau alleine wohnte. Nach dem Essen dankte sie mir überschwänglich und überreichte mir einen Umschlag. Als ich ihn zu Hause öffnete, fand ich darin ein schmutziges Stück Papier, aus einem Notizbuch herausgerissen, beschrieben mit einer langen Litanei von Dankesbezeugungen und eine Banknote im Wert von 1000 Tansania-Schillingen. (Damals ein Wert von fast 2 Tagesverdiensten.) Das Geld, so hatte sie geschrieben, sei für Benzin für mein Auto bestimmt, damit ich noch mehr kranke Leute besuchen könnte. Nebenbei bemerkt: Die Frau war eine Witwe.
Wenn die Bücher des Alten Testaments über Arme sprechen, benennen sie oft drei Kategorien von Menschen: Den Fremden, den Waisen und die Witwe (Deut 14, 29). Die Jüdischen Schriften weisen die Menschen beständig darauf hin, sich besonders um die Bedürfnisse dieser drei Typen von verwundbaren Menschen zu kümmern: Der Fremde, der Waise und die Witwe (Ps 94, 6; Jer 7, 11). Wenn die Schriften über die Gerechtigkeit Gottes sprechen, sagen sie, dass Gott den Fremden, den Waisen und die Witwe verteidigt (Ps 146, 9). – In diesem Zusammenhang bekommt die erste Lesung des heutigen Tages zusätzliche Bedeutung. Anstatt ihr zu helfen, bittet der Prophet Elias in einer Zeit der Hungersnot eine Witwe um Hilfe. Und die arme Witwe gibt ihm selbstlos das letzte Bißchen Essen, das sie besitzt. Gott, der Herr, segnet sie überreichlich: „Der Krug Mehl wurde nie mehr leer und die Kanne Öl blieb immer gefüllt“ (1 Könige 17, 16).
Im Neuen Testament lädt Jesus die, die ihm folgen wollen, ein, sich um die Armen zu kümmern: „Geh, verkaufe alles, was du hast und gib das Geld den Armen. So wirst du einen Schatz im Himmel haben. Dann komm und folge mir“ (Mk 10, 21). Es ist aber nicht so, dass Jesus die materielle Armut für heilig erklärt. Er lädt uns ein, „arm im Geiste“ zu sein (Mt 5, 3). So ist die Tugend der inneren Distanzierung vom Reichtum oder die ‘Armut im Geiste’ nicht nur eine Herausforderung für die Reichen im materiellen Sinne, sondern auch für die Armen.
Vor diesem Hintergrund hat das Evangelium von heute eine besondere Botschaft. An den letzten Sonntagen haben wir über die Ereignisse nachgedacht, die auf dem Weg Jesu nach Jerusalem passierten. Das beherrschende Thema, das die Reden Jesu während dieses Weges ausfüllt, ist das der ‘Jüngerschaft’. Nun hat Jesus Jerusalem betreten (Mk 11). Jesus ist im Tempel, und er wird berührt von der Freigebigkeit dieser armen Witwe, wie sie ihren religiösen Pflichten nachkommt und ihren Beitrag für den Erhalt des Tempels und den Unterhalt der Priester leistet. Jesus nutzt diese Gelegenheit, um erneut eine Botschaft über ‘Jüngerschaft’ zu vermitteln. Die Witwe im heutigen Evangelium war nicht nur materiell arm – weil sie eine Witwe war, sie war auch arm im Geiste – weil „sie von dem wenigen, was sie besaß, alles hergab, alles, was sie zum Leben brauchte“ (Mk 12, 44). Ein wahrer Jünger ist arm im Geiste – er ist in der Lage, sich ganz auf Gott zu verlassen. Ein wahrer Jünger ist in der Lage, sich verwundbar vor Gott zu stellen. Ein wahrer Jünger ist in der Lage, das Beste von sich, Gott zu geben.
Wir verwässern oft die Bedeutung dieses Textes oder rauben ihm seine Bedeutung, indem wir ihn als ein Beispiel für Freigebigkeit zitieren. (Gewiss, Freigebigkeit ist eine gute menschliche Tugend!) Oder, einige habsüchtige Kirchendiener nutzen diesen Text, um bei den Leute einen großzügigen Beitrag für die Kirchenkollekte anzumahnen. – Ich meine, dieser Text geht weit hinaus über Geld, Reichtum und Besitz: Bin ich in der Lage, mich verletzlich, verwundbar in die Gegenwart Gottes zu stellen? Bin ich in der Lage, vor Gott zu stehen mit offenen und leeren Händen, mit einem Geist, der nach Antworten sucht, mit einem Herzen, das bereit ist, auf die Gnade Gottes zu antworten? Oder suche ich nach falschen Sicherheiten in meinen Leistungen, in meinem Namen, in meinem Ruf, in meinem Wissen und meiner Erziehung, in meinem materiellen Reichtum, in meinen Beziehungen zu anderen Menschen?
Die Geschichte der Witwe ist nur ein besonderes Beispiel in einer Reihe von Menschen der Evangelien, die ihre falsche Sicherheit in der Gegenwart Gottes aufgeben:
Die Magier öffnen ihre Schätze und und knien vor dem Kind nieder, in dem sie die Gegenwart Gottes erkannt haben (Mt 2, 1-11);
Als Jesus seine Jünger gerufen hat, verlassen sie ihre Boote, ihre Angestellten und sogar ihren Vater und folgen Jesus (Mk 1, 20 und auch Mt 4, 22);
Als Mathäus, der Zolleinnehmer, Jesus begegnet, verlässt er seinen Platz am Zoll und folgt Jesus (Lk 5, 27-28);
Zachäus ist bereit, die Hälfte seines Besitzes den Armen zu geben (Lk 19, 9);
Bartimäus, der blinde Bettler, wirft seinen Mantel weg und kommt zu Jesus in symbolischer Nacktheit (Mk 10, 50); und
Die Samariterin lässt nach ihrer Begegnung mit Jeus ihren leeren Wasserkrug bei Jesu Füßen stehen, ein Zeichen, dass sie sich von ihrer Vergangenheit getrennt hat.
Eine Frage ergibt sich, die wir uns alle stellen können: Was ist es, woran ich festhalte – das verhindert, dass ich mich ganz Gott übergebe?
Übersetzt: Dr Alfons Nowak
8. November 2009, London