Jahr der Barmherzigkeit – Jesus wird in Nazaret abgelehnt

Jahr der Barmherzigkeit – Jesus wird in Nazaret abgelehnt

Lk 4, 16-30 – Jes 61, 1-2a / 1-8

 

(Haftung ausgeschlossen: Das Folgende ist frei erfunden!)

Herr M ist ein guter Christ. Er geht zur Kirche, sogar werktags. Er liest regelmäßig in der Bibel.

Täglich betet er den Rosenkranz, oft in einer gewissen Eile.

Er ist ein gebildeter Mann, liest die offiziellen Dokumente der Kirche, ist auf dem Laufenden über die aktuellen Probleme, die in der Kirche debattiert werden.

Er ist als Ehrenamtlicher aktiv in seiner Pfarrei, weiß um die Bedeutung der Laien in der Kirche.

Seine Einstellung in Glaubensfragen ist klar: Die Lehre der Kirche, wie sie schon immer gelehrt wurde, darf nicht verwässert werden.   Auch nicht im Namen der Barmherzigkeit.  Er glaubt, dass Gott ein gerechter Richter ist, der die Niederträchtigen zur rechten Zeit      strafen wird.   Sie werden in der Hölle büßen müssen, zusammen mit den Ungläubigen.  Der Himmel ist für die Christen da, vielleicht sogar nur für die guten Katholiken.

Herr M achtet darauf, dass die Predigten des Pfarrers nicht missverstanden werden können. Er ist der erste, der den Pfarrer darauf hinweist, wenn durch falsche Wortwahl ‘einfache Gläubige’ vielleicht auf den falschen Weg geraten könnten oder solche, die im Glauben noch nicht gefestigt sind.

Er ist der Meinung, dass sich Prediger in Schrift und Wort vorsichtig und korrekt ausdrücken sollten. Andernfalls droht ihnen das Schicksal, das Jesus denen angekündigt hat, die einen einfachen Menschen vom Glauben abbringen: der Mühlstein um den Hals! (Mt 18, 6).

An einem Freitag kam Herr M bei seiner Bibellesung zu der Stelle Jesaja 61, 1-2:

Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt.

            Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren   Herz zerbrochen ist,

            damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung,

            damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe,

            einen Tag der Vergeltung unseres Gottes.

Wie wahr, dachte Herr M, Gott ist gerecht. Er wird sich an den Bösen rächen.  Das Gnadenjahr mit seiner Verkündigung einer frohen Botschaft, der Verkündigung von Freiheit und Befreiung, meint die guten Christen. Für die Bösen wird das Gnadenjahr ein Jahr der Vergeltung sein.

Als er das Kapitel 61 weiter las, fühlte er sich in seiner Position bestätigt. In Vers 8 konnte er lesen:

            Denn ich ,der Herr, liebe das Recht. Ich hasse Verbrechen und Raub.

Am nächsten Tag war Sabbat. Er ging in die Synagoge von Nazaret. Der Gottesdienst war gut vorbereitet. Nach der ersten Lesung, die der Rabbi selbst las, wurde ein Psalm gesungen.

Dann kam die Reihe an einen Laien, der die zweite Lesung vortragen sollte. Der Rabbi lud einen jungen Mann dazu ein, gerade 30 Jahre alt. Er war ein einfacher Schreiner aus dem Dorf. Aber er hatte in den letzten Monaten angefangen, in der Gegend von Kafarnaum zu predigen. Sogar einige Wunder sollte er gewirkt haben. Es war jetzt das erste Mal, dass er wieder in seinem Heimatdorf war. Sein Name war Jeshua.

Der Rabbi gab ihm die Schriftrolle für die zweite Lesung. Jeshua entrollte sie und begann zu lesen. Er las in einem sehr persönlichen, meditativen Ton. Es war, als ob er auswendig spräche.

            Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt.

            Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe;

            damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht;

            damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze

            und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.

Herr M hätte diese Verse mit Jeshua zusammen auswendig lesen können. Merkwürdig, gerade gestern hatte er sie selbst gelesen. Er hörte voller Ehrfurcht zu.

Wie gut dieser junge Mann diesen Text liest! Er scheint ihn gut zu kennen. Es hört sich an, als ob er ihn sich zu eigen gemacht hat.

Dann kam die Überraschung: Jeshua hatte die Lesung beendet. Und um ganz deutlich zu machen, dass er nicht mehr weiter aus dem Jesaja Buch vorlesen würde, schloss er die Rolle demonstrativ. Er setzte sich feierlich und begann zu sprechen.

Was tut er da? Wo ist der Vers mit dem Tag der ‘Vergeltung unseres Herrn’ geblieben?

Herr M begann sich zu wundern. Auch anderen merkte man Unruhe und Verwunderung an.

Beansprucht er etwa, größer als unsere Propheten zu sein? Wer ist er, dass er so eine wichtige Aussage über Gott weglässt? Es steht doch fest, dass Gott ein gerechter Gott ist, das ist eine Aussage der Bibel!

Es drängte Herrn M irgendetwas zu tun. Das kann so nicht stehen bleiben. – Aber es geht noch weiter!

Seid nicht so sicher, dass ihr Gott wirklich kennt. Was macht euch so sicher? Habt ihr einen direkten Draht zu Gott? Seid nicht so sicher, dass ihr eine gute Beziehung zu Gott habt, nur weil ihr die Bibel lest und regelmäßig betet.

Wie kann er so reden? „Ist das nicht Josefs Sohn“, Lk 4, 22.

Auch steht es euch nicht an, Wunder von Gott zu verlangen, auch wenn ihr einen glühenden Glauben hättet. Ihr dürft nicht über Gott bestimmen wollen. Ihr könnt Gott nicht testen.

„Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat!“ Lk 4, 23. Jeshua hört nicht auf – wie arrogant er ist.

Gottes Interesse richtet sich nicht nach dem Maßstab von gut oder schlecht, ob einer glaubt oder nicht glaubt, ob er zur Synagoge gehört oder nicht. Gott sucht die Menschen an den Rändern, die Menschen, die abseits stehen: Beispiele sind die Witwe in Sarepta und der Syrer Naaman.

Das war einfach zu viel!        Sie sprangen auf und trieben (Jeshua) zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war und wollten ihn herabstürzen. Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg. Lk 4, 29-30.

 

Übersetzung einer Predigt von Sahaya G. Selvam, sdb, vom 31. Januar 2016.

Alfons Nowak