13. Sonntag im Jahreskreis – Lesejahr B
„Talitha, kum!“ (Mk 5, 41)
Dies ist die Geschichte einer jungen Frau, die zu früh gestorben ist. Ich lernte sie kennen, als ich als junger Priester in einer ländlichen Gegend in Tansania tätig war. Ich hatte einen Besuchsdienst für Kranke und Bettlägerige angefangen. Jeden Freitag ging eine Katechetin zum Krankenhaus und stellte eine Liste der Kranken zusammen, die einen Priester sprechen wollten. Dazu kamen die Kranken, die von der Gemeinde benannt worden waren.
Eines Tages wurden wir zu einer jungen Frau gerufen. Sie mag 18 Jahre alt gewesen sein. Ich will sie Neema nennen. Neema was bettlägerig und sprach mit sehr schwacher Stimme. Geistig aber war sie ganz wach. Vor meinem Segensgebet unterhielten wir uns ein wenig. Ich fragte sie, was ihr fehle. Sie sagte nichts, zeigte nur auf ihren Bauch. Ich fragte nicht weiter nach, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Da stellte sie mit fast versagender Stimme die Frage: „Vater, kennen sie mich nicht?“ Ich konnte mich nicht erinnern und lächelte verlegen. Vielleicht lag es daran, dass Menschen anders aussehen, wenn sie bettlägerig sind. Neema erklärte. „Ich war in ihrem Religionsunterricht, in der 11. Klasse.“ Ja, an die Klasse konnte ich mich erinnern. Wir beteten mit ihr und gingen wieder.
Auf unserem Rückweg sprach die Katechetin mich an. „Vater, wissen Sie, was mit Neema los ist? Sie war schwanger und hat in einem Hinterhof eine Abtreibung vornehmen lassen. Dabei hat sie sich eine Infektion zugezogen und ist jetzt in diesem Zustand. Es sieht ernst aus.“ Diese Information brachte mich durcheinander. Ich dachte bei mir: Was hat mein Religionsunterricht für einen Sinn gehabt? Hat er Neema irgendwie genutzt? Er hat sie nicht davor bewahrt, schwanger zu werden, noch hat er verhindert, dass sie eine Abtreibung hat machen lassen. Und jetzt liegt sie hier, hilflos um ihr Leben kämpfend! Den Rest der Woche dachte ich oft an Neema und sprach immer wieder ein Gebet für sie. Auch an den jungen Mann dachte ich, der sie schwanger gemacht und seine Verantwortung nicht übernommen hatte. Vielleicht war auch er einer aus meinem Religionsunterricht!
Am nächsten Freitag kam die Katechetin wieder mit ihrer Liste. Gespannt schaute ich die Liste durch. Neema stand nicht darauf. „Was ist mit Neema? Geht es ihr gut?“ fragte ich die Katechetin. „Es tut mir leid, Vater. Am Mittwoch haben wir sie beerdigt.“ (Es war üblich, dass die Beerdigung gleich am Tag des Todes stattfand. Die Katechetin hatte die Beerdigung vorgenommen.) Neema war gestorben, viel zu früh! Die Geschichte von Neema ist eines der Ereignisse, die mich in meiner frühen pastoralen Arbeit sehr geprägt haben. Und es ist nicht das einzige in 19 Jahren Priestersein. Wenn ich das heutige Evangelium höre, dann sind es junge Frauen wie Neema, zu denen ich Jesus sagen höre, Talitha, kum!
Die Geschichte zweier Frauen
Das heutige Evangelium erzählt uns zwei Geschichten von Frauen, und die eine Erzählung ist mit der anderen verbunden. Beide erzählen von Frauen, die auf gewisse Weise ‘tot’ sind. Interessanterweise berichten alle drei Synoptiker diese zwei ineinander gefügten Geschichten mit fast den gleichen Worten (Mt 9, 18-25; Mk 5, 22-43; Lk 8, 41-56). Die zwei Frauen stehen für zwei Altersgruppen: Die jüngere starb früh – warum, ist nicht bekannt – am Beginn ihres Erwachsenendaseins. Die ältere Frau ist in sozialer Hinsicht tot. Jesus erweckt beide zum Leben, zu Neuem Leben.
Wenden wir uns der älteren Frau zu. Markus berichtet ein wichtiges Detail, das Matthäus und Lukas weglassen. „Sie … litt seit mehr als zwölf Jahren an Blutungen und hatte viele und schmerzhafte Behandlungen von verschiedenen Ärzten hinter sich. Sie hatte all ihr Geld dafür ausgegeben, ohne dass es ihr besser ging. Im Gegenteil, es ging ihr immer schlechter (Mk 5, 25-26).“ Es bestehen viele Bezüge zum Buch Levitikus, Kapitel 15, 19-33. 12 Jahre Blutungen haben sie körperlich schwach gemacht. Religiös war sie zum Außenseiter geworden, weil sie zu keinem Gottesdienst zugelassen wurde. In ihrem Zustand war ihr der Zutritt zu einer Synagoge oder zum Tempel verboten. Sie war sozial isoliert, weil sie aus gleichem Grund an keinem sozialen Ereignis teilnehmen durfte. Vielleicht hatte sie ihr Ehemann verlassen, da sie sich gegenseitig nicht berühren durften. Darüber hinaus war sie nun auch finanziell ruiniert, „sie hatte alles ausgegeben, was sie hatte“. Sie war so gut wie tot!
Die Heilung, die sie durch Jesus erfährt, gibt ihr ihre Menschenwürde zurück. Sie könnte wie Maria im Lukas-Evangelium singen: „Der Herr hat auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut… Der Allmächtige hat Großes an mir getan. Heilig ist sein Name. Er hat seine Stärke gezeigt… Er hat den Niedrigen erhöht… Er hat den Hungernden mit Gütern gesättigt… Er ist seinem Knecht Israel zu Hilfe gekommen, eingedenk seiner Liebe zu ihm“ (Lk 1, 46-55). Dies ist ein Loblied, das viele Frauen singen können, auch heute noch.
Jesu menschliche Anteilnahme
Das Herzstück der Erweckung dieser beiden Frauen zum Leben und zu neu geschenkter Menschlichkeit ist Jesu Mitleid mit ihnen. In beiden Fällen geht es um Berührung. Beide Male war körperliche Berührung ein Tabubruch. Niemanden durfte die blutende Frau berühren; denn jeder, den sie berührte, wurde dadurch unrein. Auch für Jesus war diese Berührung etwas Besonderes. Diese Berührung zeigt ihren Glauben, und Jesus lobt sie dafür: „Meine Tochter,“ sagt er, „dein Glaube hat dich gesund gemacht. Gehe in Frieden, du bist gesund“ (Mk 5, 34).
Im zweiten Fall bricht Jesus das Tabu, indem er ein totes Kind anfasst. Einen toten Körper zu berühren, macht unrein. Ohne ein reinigendes Bad dürfte er nach einer solchen Berührung keinen sozialen Kontakt pflegen. Er hätte das Wunder allein durch das Sprechen eines Wortes tun können. Aber er legt Wert auf eine Berührung, um dem Kind sein Menschsein zurückzugeben. Und noch auf andere Weise zeigt Jesus sein menschliches Empfinden: Er sagt ihnen, dass sie ihr etwas zu essen geben sollen.
Die Aufgabe der Kirche heute
Die Gemeinschaft der Gläubigen – das sind wir, das ist die Kirche – hat heute die Verantwortung, Jesu Mitgefühl an die Menschen weiterzuleiten. Eine besondere Verpflichtung besteht gegenüber den Frauen. Was kann die Kirche heute tun, damit junge Menschen wie Neema nicht so früh sterben müssen? Was können wir tun, um den Frauen innerhalb der Kirche den Platz zu geben, der ihnen ihrer nach Würde zusteht? Wir sollten ungerechte Traditionen nicht durch Theologisieren rechtfertigen, sondern sollten uns den Realitäten stellen, so wie Jesus es tat. Auch wenn das heißt, Tabus zu brechen.
In dieser Hinsicht leben wir in einer viel versprechenden Zeit, sowohl in Gesellschaft als auch in der Kirche. Dank Papst Franziskus zeigt die Kirche wieder deutlich, dass es ihr um den Menschen geht. Sind wir bereit, uns für diesen Geist zu öffnen, zu dem der Papst uns einlädt?
Vergebungsbitte für die Sünden, die wir gegen Frauen begangen haben:*
Herr,
wir bitten um Vergebung für die Sünden, die wir gegenüber Frauen begangen haben…
Durch die Vorherrschaft des Mannes überall auf der Welt
durch die Geschichte der Menschheit hindurch, soweit wir sie überblicken:
für die Normen und Regeln, die den Status quo aufrecht erhalten,
für das Vorenthalten von gleichen Rechten in Bildung und Arbeit,
bei der Entscheidungsfindung und in Leitungsfunktionen.
Herr,
wir bitten um Vergebung für die Sünden, die wir gegenüber Frauen begangen haben…
In den Massenmedien:
wo wir sie zu Reklamezwecken benutzen, um unsere Produkte zu verkaufen,
wo wir ihre Körper ohne Würde und Respekt behandeln,
wo nur männliches Denken und männliche Werte vertreten werden.
Herr,
wir bitten um Vergebung für die Sünden, die wir gegenüber Frauen begangen haben…
Im Bereich von Ehe und Familie:
für das Verweigern des Rechts, den Ehepartner selber auszuwählen,
für die Verweigerung von Freude und Erfüllung in der ehelichen Liebe,
für den Gebrauch von Frauen als Sexualobjekte.
Herr,
wir bitten um Vergebung für die Sünden, die wir gegenüber Frauen begangen haben…
Indem wir sie zu Ware und Besitz erniedrigt haben:
Durch den Kauf und Verkauf von Frauen
auf dem Heiratsmarkt mit Hilfe unseres Mitgift-Systems,
durch die Herabwürdigung von Frauen zu reinen Arbeitskräften,
durch die Überlassung der minderwertigen Arbeiten für sie,
durch die Überlastung mit Haushaltsarbeit,
durch die Erfindung vieler Tabus, die die Ungleichheit stützen sollen.
Herr,
wir bitten um Vergebung für die Sünden, die wir gegenüber Frauen begangen haben…
In der Christenheit:
Indem wir ihnen gleiche Rechte verweigern
in den Leitungsfunktionen und in den Ämtern.
Indem wir Frauenorden
männliche Leitungsstrukturen aufzwingen.
Herr,
wir bitten um Vergebung für die Sünden, die wir gegenüber Frauen begangen haben…
Indem wir nicht dankbar gegen Frauen waren:
Gegenüber unseren Müttern und Schwestern, die uns aufgezogen haben,
gegenüber Lehrerinnen und Nonnen, die uns unterrichtet haben,
gegenüber unseren Haushaltshilfen, den Bedienungen, den Frauen,
die an der Rezeption arbeiten, die unsere Sekretärinnen sind,
dass wir ihnen nicht die Anerkennung geschenkt haben,
die sie in unserem Leben verdienen.
Vor allem, Herr,
bitten wir um Vergebung dafür,
dass wir den Geschlechter-Unterschied dazu benutzen, um Ungleichheit zu begründen,
dass wir aber auch Gleichheit proklamieren, um Unterschiede wegzuwischen,
dass wir nicht akzeptieren, dass wir unterschiedlich sind und doch gleich,
dass wir nicht akzeptieren wollen, dass es darauf ankommt, sich gegenseitig zu ergänzen.
*Diese Bitten können für den Ritus der Sündenvergebung während der Eucharistiefeier gebraucht werden. Jede Bitte könnte begleitet werden durch eine symbolische Handlung, z.B. indem ein Mann nach vorne kommt, um sich die Hände zu waschen. Dabei könnte ihm eine Frau assistieren.
Sahaya G. Selvam, sdb, 8 Juni 2015
Übersetzung Alfons Nowak