Maria setzte sich zu Jesu Füßen und hörte ihm zu.
16. Sonntag im Jahreskreis – Lk 10, 38-42
Eine der Merkmale unserer heutigen städtisch geprägten Lebensweise weltweit ist die Geschwindigkeit. Während der letzten Jahre, die ich in London und Nairobi verbracht habe, fühle ich mich der Geschwindigkeit ausgeliefert. Jeden Morgen steige ich in ein Auto und hetze zur Arbeit. Jeden Abend geht es im Auto zurück. Entweder stört mich der, der vor mir zu langsam fährt oder ich fühle mich von dem bedrängt, der hinter mir drängelt, dem es nicht schnell genug geht. In meinem Büro lese ich Emails, die noch heute! beantwortet werden wollen. Berichte sollen sofort erstellt werden. Ich bekomme Nachrichten, Ergebnisse von Treffen, die gerade eben erstellt worden sind. Ich habe mir angewöhnt, vieles gleichzeitig zu tun: einen Artikel für die Veröffentlichung fertigstellen, meinen Unterricht vorbereiten, Telefonanrufe annehmen, Emails beantworten und dabei zum nächsten Termin zu hetzen. Was ist eigentlich los?
Menschen erfinden ständig Maschinen, die Zeit sparen, und was wir von überall her hören ist, dass keiner Zeit hat!
Wenn ich anfange darüber nachzudenken, ob das, was ich tue, sinnvoll und effektiv ist, fällt mir sofort die Aufforderung ein: Ruhiger, langsamer! Komm runter, entschleunige dich! Aber kaum versuche ich es, ist schon jemand da, der mich erneut antreibt. Und als faul und ineffektiv möchte ich auf keinen Fall erscheinen!
Das heutige Evangelium sagt es mit Nachdruck: Werde ruhiger, setze dich hin, höre zu!
„Martha, du machst dir Sorge und Unruhe um vieles.“
Jesu Worte an Martha im heutigen Evangelium sind keine Ermunterung zur Faulheit. Auch tadelt Jesu sie nicht, dass sie sich zu viel Arbeit aufgeladen hat. Schließlich tut sie alles, was sie tut, für ihn. Jesu Reaktion hat eine tiefere Bedeutung:
„Martha aber, viel in Anspruch genommen mit dem Bedienen, kam zu ihm und sagte: ‘Herr, kümmert es dich nicht, dass Maria mich mit der Bewirtung alleine lässt? Sag ihr doch, sie möge mir helfen.’ Der Herr antwortete ihr: ‘Martha, Martha, du machst dir Sorge und Unruhe um vieles. Eines nur ist notwendig. Maria hat den guten Teil erwählt, der wird ihr nicht genommen werden“ (40-42).
Die Arbeit ist ihr zu einer Last geworden. Die viele Sorge machte sie unruhig, ängstlich, schließlich gereizt. Für mich ergibt sich daraus Folgendes: Nicht, wie viele Belastungen ich habe, ist das Problem, sondern wie ich mit meinen Belastungen umgehe, ob ich in der Lage bin, das, was ich tue, mit Würde und Anstand zu verrichten – ohne Angst, ohne Unruhe. Jesus erinnert Martha und auch mich daran, dass unsere Arbeit zu einer Bürde wird, erfüllt von Sorge und Unruhe, wenn sie nicht getragen wird aus einem Geist der Kontemplation.
Was ist Kontemplation?
„Maria setzte sich zu Jesu Füßen.“
Ihre Gestik, ihre Körperhaltung gibt uns im Text den entscheidenden Hinweis. ‘Maria setzte sich zu den Füßen des Herrn.’ Das ist die Haltung, die ein Rabbi-Schüler zu Zeiten Jesu einnimmt. Damit verletzt sie ein Tabu. Keine Frau zur Zeit Jesu stand es zu, Schülerin eines Rabbi zu werden. Im Tempel zu Jerusalem hatten die Frauen ihren eigenen Bereich. Dahin, wo das Opfer dargebracht wurde, durften sie nicht. In den Synagogen hörten sie die Torah hinter einem Vorhang. Während ein jüdischer Junge mit 13 Jahren bei seiner Bar Mitzwah-Feier angeleitet wurde, die Torah vorzulesen, mussten die Mädchen damit zufrieden sein, die Torah vorgelesen zu bekommen. (Heutzutage erlauben die liberaleren jüdischen Gemeinden den Mädchen, die Torah vorzulesen, aber nur Gruppen von Frauen.) In einem solchen sozial-religiösen Umfeld ist das Bild einer Frau zu den Füßen eines Rabbi, zudem noch des Sohn Gottes, eine Gotteslästerung. Vermutlich kann auch Martha diesen Anblick nicht ertragen. Sie protestiert, will den Herrn und seine Schülerin daran erinnern, dass der Platz für die Frau die Küche ist.
Jesus denkt anders. Er erlaubt nicht nur ausdrücklich Maria, seine Schülerin zu sein. Nein, er lädt auch Martha ein, sich diesen neuen Gegebenheiten entsprechend zu verhalten. Ja, wir sind Zeuge davon, dass die Verhältnisse sich ändern. Jesus lädt jeden ein, sich zu seinen Füßen zu setzen. Das ist der erste Schritt der Kontemplation: zur Ruhe kommen, entschleunigen, sich zu seinen Füßen setzen! Folge dieser Einladung Jesu, sein Schüler zu werden.
„Maria setzte sich.. und hörte ihm zu.“
Den zweiten Aspekt von Aufmerksamkeit zeigt uns das heutige Evangelium ebenfalls. Es ist die Bereitschaft Marias zu hören. Es ist eine Bewegung weg von einem reinen Schülerverhalten hin zu Kontemplation. Eigentlich geht es um dasselbe. Der Schüler ist zur Kontemplation eingeladen. Maria hat diese Einladung angenommen. „Maria setzte sich zu Jesu Füßen und hörte ihm zu.“
Die Geschwindigkeit, von der ich in meiner Einleitung sprach, der Lärm in unseren Städten, die Hektik unserer Lebensweise, all dieses beeinflusst auch unser Beten und unser Verhältnis zu Gott in Jesus. In unseren Gebeten sprechen wir zu viel – bitten um Gunsterweise und wollen alles sofort. Unsere Gebete sprechen wir in Eile – wir haben ja noch so viel anderes zu tun. Das heutige Evangelium lädt uns ein, beim Gebet einfach nur zu sitzen und auf ihn zu hören. Das ist Kontemplation. Wir müssen der Versuchung widerstehen, immer etwas tun zu wollen, auch in unseren Gebeten – wie schön sie auch sein mögen. Das Einzige, was wir tun müssen, ist uns hinsetzen und hören.
Kontemplatives Gebet ist eine Form von – auch christlichem – Gebet, bei der man sich Gott in einer passiven, offenen Weise zuwendet, nicht abwehrend, nicht fordernd. Es ist ein geduldiges Warten auf Gott. Warten, dass mein Vertrauen in Gottes Liebe und Kraft stärker wird. Solch eine Gebetshaltung, die darauf setzt, dass mein Vertrauen in Gott wächst, befreit mich auch zu mehr Liebe zu meinem Nächsten, zu einer Liebe, die keine Vorbedingungen kennt, zu einer Liebe, die einfühlender ist. Dazu möchte Jesus Martha einladen.
Ich kehre zu meiner Situation zurück, zu meinem Kampf mit unzähligen Verpflichtungen und dem Wissen, wie wichtig die Kontemplation für mein Leben ist. Wie schaffe ich es in meinem Alltag, eine Haltung einzunehmen, die bedeutet, ‘mich zu seinen Füßen zu setzen und ihm zuzuhören’? Ich versuche es , indem ich am Tag ein paar feste Zeiten in Stille verbringe. Auf dem Weg zur und von der Arbeit, versuche ich, während ich im Auto sitze, mit Herz und Sinnen auf Gott zu hören. Es ist ein anhaltender Prozess, die Martha in mir in eine Maria zu verwandeln.
Nach und nach wird die Überzeugung in mir größer – zugegeben ein sehr langsamer Prozess – den die große Heilige Theresa von Avila so zusammengefasst hat: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich verwirren. Alles geht vorbei. Gott allein bleibt. Mit Geduld gelingt dir alles.“
Sahaya G. Selvam, sdb
Nairobi, 21. Juli 2013
Übersetzung Alfons Nowak