„Gott gibt uns keine Straßenkarte, aber einen Kompass.“

„Gott gibt uns keine Straßenkarte, aber einen Kompass.“

1. Sonntag der Fastenzeit Jahr B – Mk 1, 12-15

 Oft wache ich morgens mit einer guten Idee auf. Meist habe ich einen konkreten Satz vor Augen. Wenn ich wach genug bin, behalte ich ihn und er begleitet mich den ganzen Tag. Ich beschäftige mich immer wieder mit ihm und gelegentlich notiere ich ihn in meinem Ta­gebuch und nutze ihn in meinen Gesprächen und Predigten. Ich nenne dieses Phänomen ‘Dämmerungs-Weisheit’. Vor einigen Tagen wachte ich mit dem Satz auf: „Gott gibt uns keine Straßenkarte, aber einen Kompass“. Ich will mich bei den Überlegungen zur diesjäh­rigen Fastenzeit von diesem Satz leiten lassen. Und dazu möchte ich ihnen jeden Sonntag eine klassische Gebetsform vorstellen, die helfen soll, uns in Richtung Kompass auszu­richten.

Straßenkarte und Kompass

Gott hat uns nicht mit einer detaillierten Straßenkarte ausgestattet. Straßenkarten zeigen uns Wege, beschreiben die Landschaft, weisen auf Sehenswürdigkeiten hin, geben klare Entfernungsangaben. Als Jahwe das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten führte, gab er ihnen keine Straßenkarte mit. Darum brauchten sie auch 40 Jahre voller verschlunge­ner Wege in der Wüste, um das Verheißene Land zu erreichen. Straßenkarten fixieren un­sere Aufmerksamkeit auf das Ende der Reise. Beim Prozess des Reisens selbst helfen sie nicht so sehr. Sie verführen uns dazu, Abkürzungen zu nehmen.

Gott hat uns mit einem Kompass ausgestattet – einem inneren Kompass. Er zeigt uns die die Richtung zum Nordpol – zum Ziel unseres Lebens. Mit den Worten von Ignatius von Loyola kann man sagen, der Kompass lädt mich ein, ‘am Leben Gottes teilzunehmen’. Das ist das Ziel meines Lebens.

Es gibt Zeiten in meinem Leben, da vergesse ich den Kompass und seine Richtung. Ich vergesse, mich nach ihm auszurichten. Oder ich lehne es ab, mich von ihm lenken zu las­sen. Vielleicht bin ich zu beschäftigt, nicht interessiert, ich habe andere Wege gewählt. Ich versuche, wie es der französische Schriftsteller Michel Quoist ausgedrückt hat, auf den Nebenwegen des Lebens Schmetterlinge zu fangen. Ich bin abgelenkt. Ein großer Vorteil des Kompasses ist, dass ich unabhängig von dem Ort, an dem ich mich gerade aufhalte, jederzeit neu zu meiner Reise aufbrechen kann. Die Fastenzeit lädt uns ein, auf den Kom­pass zu achten und unseren Weg neu zu beginnen.

Versuchung: Erkennen und Entscheiden

Da der Kompass nur die Richtung angibt, muss ich ständig entscheiden, welchen Weg ich wähle. Die unveränderliche Ausrichtung nach Norden bedeutet, Einheit mit Gott anzustre­ben. Aber Gott schreibt mir nicht vor, wie ich zu diesem Ziel gelange. Jesus ist auch mit ei­nem Kompass im Herzen geboren worden: Die Liebe Gottes mit den Menschen zu teilen und die Herrschaft Gottes in allen Herzen zu begründen. Ich glaube, für Jesus war dieser Weg nicht von Anfang an klar. Auch Jesus musste den Weg finden – das Königreich Got­tes aufzubauen. Hier liegt der Kern seiner Versuchungen. Jedes Jahr hören wir am ersten Fastensonntag von den Versuchungen Jesu. Dieses Jahr ist das Markus-Evangelium dran. Markus spricht sehr knapp und allgemein,über die Versuchungen, ohne sie einzeln zu beschreiben, wie es Matthäus (4, 1-11) und Lukas (4, 1-13) tun. Man könnte sagen, Markus betont den Entscheidungscharakter der Versuchung. Interessanterweise heißt es hier „Der Geist führte Jesus in die Wüste… (Mk 1, 12). Versuchung bedeutet, sich auf ei­nem lebenswichtigen Weg in eine Entscheidungssituation gestellt zu sehen, mit der Mög­lichkeit, sich für leichte und attraktive Abkürzungen entscheiden zu können. Die Hilfe des Geistes ist dabei vorhanden. So war es bei der Versuchung Jesu. So ist es bei unseren Versuchungen.

Obwohl die synoptischen Evangelien die Versuchung Jesu am Anfang seines öffentlichen Lebens berichten, heißt das nicht, dass dies die einzige Gelegenheit war, in der Jesus ver­sucht wurde. Im Johannes-Evangelium sind die Versuchungen gezielt auf mehrere Berich­te verteilt (Joh 6, 15, 30-31; 7, 3). Die Zurechtweisung des Petrus (Mk 8, 31-33), die To­desangst Jesu am Ölberg vor seinem Leiden (Mk 14, 36) und sogar die Verlassenheit Jesu am Kreuz (Mk 15, 34) sind Momente, die man als Versuchungen Jesu auffassen kann. Jesus zeigt uns, wie man mit solchen Situationen umgehen kann. Er lädt uns ein, of­fen für Gott zu bleiben.

Versuchungen, so zu bestehen, dass sie mich weiter bringen, darin besteht die Kunst der Entscheidung. Wo ist der Kompass, der mir dabei hilft? Ist meine Vision zu verschwom­men? Die Kunst der Entscheidung kommt nicht nur bei wichtigen Lebens­entscheidungen zum Tragen. Es geht um ein anhaltendes Üben, meine Wünsche an meinem Kompasses auszurichten. Der heilige Ignatius schlägt eine tägliche Übung als wichtige Hilfe dazu vor.

Die tägliche Übung: Sich nach dem Kompass ausrichten

Diese Übung ist eine sehr wirksame Hilfe, um sich auf Gott auszurichten. Ich fasse sie hier in fünf Stufen zusammen (ausführlich dargestellt wird sie im Internet unter www.ignatianspirituality.com).

Stufe 1. Sich Gottes Gegenwart bewusst werden. Schau auf die Ereignisse des Tages in der Gegenwart des Heiligen Geistes. Der Tag mag für dich verwirrend gewesen zu sein – ein Gewirr, ein Durcheinander, eine Unordnung. Bitte Gott um Klarheit und Verstehen.

Stufe 2. Schau mit Dankbarkeit auf deinen Tag. Gehe in der Gegenwart Gottes durch dei­nen Tag und nimm seine Freuden und schönen Seiten wahr. Konzentriere dich auf seine Geschenke. Schau auf deine Arbeit, auf die Menschen, mit denen du Kontakt hattest. Was hast du von ihnen erhalten? Was hast du ihnen gegeben? Achte auf die kleinen Dinge – das Essen, das du gegessen hast, die Dinge, die du gesehen hast und andere scheinbar kleine Freuden. Gott ist in den kleinen Dingen.

Stufe 3. Achte auf deine Gefühle. Eine der großen Erkenntnisse des Heiligen Ignatius war, dass wir die Gegenwart des Heiligen Geistes in den Bewegungen unserer Gefühle erspü­ren können. Denke über die Gefühle nach, die dich während des Tages begleitet haben. Langeweile? Begeisterung? Ärger? Mitleid? Zorn? Vertrauen? Was sagt Gott mir durch diese Gefühle? Gott wird dir vermutlich einige Wege zeigen, die Abkürzungen waren. Nimm wahr, was schlecht und fehlerhaft war. Aber suche auch nach tiefer gehenden Ein­sichten. Bedeutet das Gefühl der Enttäuschung vielleicht, dass Gott dich zum Nachdenken über deine Arbeit bringen will? Dass du vielleicht neue Wege einschlagen sollst? Bist du über einen nahe stehenden Menschen in Sorge? Vielleicht solltest du etwas für ihn tun?

Stufe 4. Suche dir ein Ereignis des Tages und bete in diesem Sinne. Bitte den Heiligen Geist, dass er dich auf etwas an diesem Tag aufmerksam macht, das eine besondere Be­deutung für dich hat. Es mag mit einem besonderen Gefühl verbunden sein – positiv oder negativ. Es kann die Begegnung mit einem anderen Menschen sein, ein Ereignis, das dir besonders lebhaft in Erinnerung ist durch die Freude, durch das Gefühl des Friedens, das es in dir hinterlassen hat. Es kann auch etwas sein, das ziemlich unbedeutend erscheint. Schau es dir an. Bete darüber. Lass das Gebet spontan aus deinem Herzen aufsteigen – als Fürbittgebet, als Loblied, als Gebet der Reue oder der Dankbarkeit.

Stuf 5. Schau auf den morgigen Tag. Bitte Gott um Licht für die Herausforderungen des morgigen Tages. Achte auf die Gefühle, die auftauchen, wenn du an das denkst, was dich erwartet. Ist es Unsicherheit? Bist du froh gestimmt? Bist du besorgt? Bist du in freudiger Erwartung? Nimm diese Gefühle in dein Gebet hinein. Suche Gottes Führung und Beglei­tung. Bitte ihn um Hilfe und Verständnis. Bete um Hoffnung. Sprich mit Jesus darüber. Be­ende diese Übung mit dem Vater Unser.

Sahaya G. Selvam, sdb.

London, 26. Februar 2012

Übersetzung Alfons Nowak