30. Sonntag im Lesejahr A
Ex 22, 20-26; 1 Thess 1, 5c-10; Mt 22, 34-40
Ich schreibe diese Gedanken aus Kigali in Ruanda. Aus verschiedenen Gründen ist es mir nicht leicht gefallen. Kigali ist eine schöne Stadt, vielleicht die schönste Stadt, die ich in Afrika besucht habe. Die Menschen strahlen, wirken freundlich, herzlich. Aber 1994 befand sich hier das Epizentrum der grausamen Ereignisse, bei denen Nachbarn und Freunde plötzlich über einander herfielen. In drei Monaten wurden fast eine Million Menschen umgebracht, nur weil sie zu unterschiedlichen sozialen Gruppen gehörten. 20% der Bevölkerung wurde ausgelöscht, in einer Nation, die sich rühmte, auf dem Afrikanischen Kontinent den höchsten Anteil an Christen aufzuweisen, nahezu 95%, davon 56% Katholiken!
Die Frage, wie diese Christen das Liebes-Gebot gelebt haben bzw. wie sie darin versagt haben, lässt sich leicht stellen Wenn ich aber mein Gewissen erforsche, dann weiß ich selbst, wie schwierig es ist zu lieben. Zu anderen nett zu sein, das mag gehen, aber andere zu lieben wie mich selbst, das scheinen nur schöne Worte zu sein! Und darum, das ist mir bewusst, will ich zuerst und vor allem mir selbst predigen. Ich will mich vom Wort Gottes des heutigen Tag treffen lassen.
Es wird behauptet, dass zur Zeit Jesu die Rabbiner 613 Vorschriften aus der Thora ableiten konnten: 365 Verbote (Das darfst du nicht tun!) und 248 Gebote (Das sollst du tun!). Einige Rabbiner hielten alle Vorschriften für gleich wichtig, während andere darüber diskutierten, welche die wichtigsten seien. Das war der Hintergrund, auf dem die Pharisäer und Sadduzäer Jesus nach seiner Meinung fragten, welches die wichtigsten Vorschriften des Gesetzes seien, auch wenn es ihnen darum ging, Jesus auf die Probe zu stellen. Offensichtlich gibt Jesus eine Antwort, die der mancher Rabbiner ähnlich ist. Zum Beispiel gibt es folgende Erzählung über Rabbi Hillel, der einige Jahre vor Jesus lebte. Ein Ungläubiger kam zu ihm, um ihn herauszufordern. „Ich bin bereit, an die Thora zu glauben, wenn du in der Lage bist, mir das Gesetz in der Zeit beizubringen, in der ich in der Lage bin, auf einem Fuß zu stehen.“ Hillels Antwort lautete: „Das, was du nicht willst, dass man dir tut, das tue auch deinem Nächsten nicht! Dies ist das ganze Gesetz, der Rest ist nur die Erläuterung dazu.“
In ähnlicher Weise nimmt Jesus zwei Sätze aus der Thora und fasst in ihnen die ganze Botschaft zusammen: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben, aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, mit all deinem Verstand“ (aus Deuteronomium 6, 5), und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (aus Levitikus 19, 18).
Neu ist der verbindende Satz in Jesu Zitat: „Das zweite Gebot ist dem ersten sehr ähnlich“ (Mt 22, 34a). In Jesu Denken kann man Gottesliebe nicht von Nächstenliebe trennen. Im Lukas-Evangelium (10, 27) nennt Jesus beide Gebote in einem Atemzug.
Interessant ist, dass im Alten Testament das Gebot ‘Liebe deinen Nächsten‘ (Lev 19, 18) nur einmal vorkommt. Aber an 37 Stellen findet sich das Gebot, den Fremden zu lieben, wie wir es in der heutigen ersten Lesung gehört haben. Hat Jesus den ursprünglichen Sinn durch seine Aussage geändert? Es scheint so. Im Lukas-Evangelium (10, 25-28), in der Geschichte vom Barmherzigen Samariter, stellt Jesus sogar ausdrücklich fest, dass der Nächste auch der Fremde ist!
In Hinsicht auf das ‘wie sich selbst’ im Gebot der Nächstenliebe, bevorzuge ich die Version des Johannes-Evangeliums: „Ich gebe euch ein neues Gebot: Liebt einander. Ihr sollt einander so lieben, wie ich euch geliebt habe“ (13, 34, ebenfalls 15, 12). Auch wenn diese Fassung anspruchsvoller ist, entspricht sie mehr dem, was Jesus wollte. Der Maßstab meiner Liebe ist nicht meine Eigenliebe (was Jesus als Zitat aus der Thora übernimmt), sondern der Maßstab ist die Weise, wie Jesus mich liebt (das sind seine eigenen Worte) – Er gibt sich für mich hin!
Ich bin mir nicht sicher, dass ich mein Leben für jemand anderen hingeben würde, auch wenn ich diesen Menschen lieben würde, ganz zu schweigen, wenn mir dieser Mensch ein Fremder wäre. Aber ich höre nicht auf, mich weiter dem Anspruch zu stellen, für andere Menschen Verantwortung zu übernehmen, auch wenn ich dabei nur langsam Fortschritte mache.
In der letzten Woche wurde mir durch eine junge Ruanderin eine ordentliche Lektion darin erteilt, was Freundlichkeit gegenüber Fremden bedeutet. Ich war am Samstag, den 15 Oktober, genervt in Kigali gelandet, um an einer Konferenz meines Ordens teilzunehmen. In Nairobi hatte ich endlos lange am Schalter für Transit-Reisende gestanden, die Rolltreppen konnte ich vergessen; denn sie funktionierten natürlich nicht. Und nun war niemand da, um mich am Flughafen abzuholen. Ich wurde nervös, schließlich war ich das erste Mal in Kigali. Ich entschloss mich zu telefonieren und ging zu einem Kiosk, um eine Telefonkarte zu kaufen. Die junge Frau im Kiosk bot mir ihr eigenes Mobilphon an, um den mir bekannten Priester anzurufen. Es klappte. Ich fragte sie, was ich bezahlen müsste. Sie antwortete in einem kindlichen Englisch: „Ich habe ihnen doch bloß geholfen!“ Ich war überrascht, dankte und wartete auf den Priester, der mich abholen wollte.
Da erinnerte ich mich an eine ähnliche Situation im Januar 2011, als ich in einer anderen Stadt in Afrika landete. Die Dame in der Touristen-Information bot mir auch ihr eigenes Telefon an und verlangte dann 50 Schillinge, für einen Anruf, der sonst höchstens 3 Schillinge gekostet hätte.
Mein Eindruck stand fest: Ruander sind nette Menschen! Und ich wollte mich revanchieren, wechselte etwas Geld und bot der jungen Ruanderin 1000 Ruandische Francs an (der Wert entspricht 2 Britischen Pfund). Sie lehnte ab, schließlich akzeptierte sie widerstrebend. Zunächst hatte ich das Gefühl, ein gutes Werk getan zu haben. Aber dann kamen mir Zweifel. War es wirklich so? Oder kam es mir hauptsächlich darauf an, nicht in der Schuld von jemand anderem zu stehen. Warum habe ich nicht einfach taktvoll die Freundlichkeit einer Fremden angenommen?
Sahaya G. Selvam, sdb
Kigali, 23. Oktober 2011
Übersetzung Alfons Nowak