Vergebung muss erfahren werden (Mt 18, 21-35)

 Vergebung muss erfahren werden (Mt 18, 21-35)

 24. Sonntag im Jahreskreis A

 Wenn mich Menschen, meist sind es junge, fragen, warum Katholiken bei einem Priester zur Beich­te gehen und warum sie nicht Gott direkt ihre Sünden bekennen, dann versuche ich zu erklä­ren, warum Ich zur Beichte gehen. Der bedeutendste Grund ist wohl der: dass ich von einem Men­schen gesagt bekommen möchte, dass Gott mir vergeben hat. Dieser Grund entspricht der Theo­logie der Sakramente – sie sind sichtbare äußere Zeichen eines inneren gnadenhaften Gesche­hens.

Im Juli nahm ich an den 30-tägigen Ignatianischen Exerzitien teil. Ein Höhepunkt in dieser Zeit war für mich die Feier des Sakraments der Versöhnung, die Beichte. Nach acht Tagen des Schweigens und des Gebetes merkte ich, dass mich Erinnerungen an erlittene Verletzungen und begangene Schuld vom Gebet ablenkten. In mir entstand der Wunsch nach einer umfassenden Beichte, um mich von dieser Last zu befreien. Als dieser Wunsch in mir auftauchte, fing auch der Exerzitien­meister an, von der Vorbereitung auf die Beichte zu sprechen. Es ist schon erstaunlich,  wie weise Ignatius den Termin zur Beichte eingeplant hat. Nach der Beichte fühlte ich mich erleichtert. Ich spürte, dass Gott mir vergeben hatte, und diese Erfahrung zog mich noch näher hin zu ihm.

Vor einiger Zeit habe ich mit einem Psychotherapeuten über die Psychologie der Vergebung ge­sprochen (zur Zeit wird über dieses Thema viel wissenschaftlich geforscht). Ich weiß nicht, ob der Psychotherapeut gläubig war, katholisch war er jedenfalls nicht. Im Laufe unseres Gespräches sagte er dieses: „Mit der Vergebung verhält es sich wie mit der Liebe. Menschen, die nicht in der Lage sind, anderen zu vergeben, haben meist selbst nicht die Erfahrung von Vergebung gemacht.“

Das Gleichnis vom unbarmherzigen Diener in seinem Zusammenhang

Im Evangelium des letzten Sonntags ging es Jesus darum, dass wir Unstimmigkeiten durch Dialog klären sollten. Erst wenn der zu keiner Lösung führen sollte, kämen gesetzliche Regelungen in Be­tracht (Mt 18, 15-20). Das heutige Evangelium ist eine direkte Fortsetzung des Textes, bezieht sich aber auf einen benachbarten Bereich. Jesus lädt uns ein, jemandem, der uns Unrecht tut, immer wieder zu verzeihen (Mt 18,22). Es ist eine Einladung, alles gesetzliche Denken zu überwinden. Das dann folgende Gleichnis sagt uns, dass wir zu ständiger Vergebung nicht bereit sein wer­den, wenn wir selbst nicht vorher Vergebung erfahren haben. Wir brauchen dafür die Erfahrung der Ver­gebung durch eine Höhere Macht – durch Gott. In diesem Gleichnis stellt Jesus dar, wie es sich mit der Vergebung im Reich Gottes verhält.  Ich will auf ein paar Details des Gleichnisses vom ‘Unbarmherzigen Diener’ eingehen (Mt 18, 23-35).

Der Diener im Gleichnis schuldet seinem König eine unvorstellbar große Summe Geld. Manche schätzen, dass es sich bei der Summe der ‘zehntausend Talente’ um einen Betrag von 100 Millio­nen Denare gehandelt hat (rechnet man, dass ein Denar der Tagesverdienst eines Dieners war, dann müsste dieser 27.400 Jahre arbeiten, um diese Summe zu verdienen)! Der König wusste, dass der Diener diese Summe niemals zurückzahlen könnte (V 25). Der Verkauf des Dieners und seiner Familie als Sklaven würde auch nur einen Teil der Schuld einbringen. Das Versprechen des Dieners, „Habe Geduld, ich werde dir die ganze Summe zurückzahlen“ (V 26), kann nicht ernst ge­meint sein und ist lediglich der Versuch abzulenken. Sind manche Menschen in die Enge getrie­ben, so reden sie Unsinn. An dieser Stelle ist es wichtig zu bemerken, dass der Diener niemals um Vergebung oder um Erlass der Schuld bittet. Vermutlich ist er dazu zu stolz. Der König, in seiner Großherzigkeit, lässt ihn gehen. Der Herr hat Mitleid und erlässt ihm seine Schuld (V 27). Die Schuld des Dieners ist einfach vergessen!  Es ist reiner Tisch gemacht!  Welche Befreiung!  Aber ist sie für den Diener auch zu einer Erfahrung von Freiheit geworden?

Der gleiche Diener hat einen Schuldner, einen anderen Diener, der ihm nur 100 Denare schuldet. Eine Summe, die rückzahlbar ist – der Lohn von 100 Tagen Arbeit. Was sind 100 Tage im Vergleich mit 27.400 Jahren?  Wenn der zweite Diener also verspricht, „Ich werde es dir zurückzahlen“, so ist das glaubwürdig. Der erste Diener aber, anstatt die Vergebung seines Herrn zu teilen, verharrt im gesetzlichen Denken. Vor dem Gesetz ist er im Recht. Aber menschlich ist es nicht, wie er han­delt. Damit gehört er nicht zum Reich Gottes.

Der König erfährt davon und ruft ihn zu sich. „Du böser Diener, deine ganze Schuld habe ich dir er­lassen, weil du mich gebeten hast. Weil ich mich deiner erbarmt habe, hättest auch du dich deines Mitbruders erbarmen müssen“ (VV 32-33). Der Diener ist ein Gefangener seines eigenen unbarm­herzigen Herzens. Durch seine Haltung seinem Mitbruder gegenüber verfehlt er die Möglichkeit, sich über die ihm gewährte Vergebung, seine neu gewonnene Freiheit, sein neues Wohlbefinden (seine Erlösung?) zu freuen.  Was geschieht hier?

Es ist notwendig, Vergebung und Heilung zu erfahren

Dem Diener ist ohne Gegenleistung Vergebung geschenkt worden, aber er hat diese Vergebung nicht wirklich verinnerlicht. Ist Ihnen aufgefallen, dass er die Großzügigkeit seines Herrn nicht wahr­ge­nom­men hat? Man findet keinen Ausdruck von Dank, kein Bemühen um Wiedergutma­chung nach dem Treffen mit seinem Herrn. Er nimmt sich nicht einmal Zeit, die Barmherzigkeit sei­nes Herrn auf sich wirken zu lassen.  Er ist verletzt. Verletzt durch Demütigung! Bekommt man et­was geschenkt, was man nicht verdient hat, dann gibt es zwei Weisen darauf zu reagieren. Entwe­der kann ich es de­mütig annehmen, oder ich fühle mich gedemütigt. Demut vertieft mein seeli­sches Empfinden – und ich entwickle mich weiter in Richtung Großherzigkeit! Fühle ich mich gede­mütigt, werde ich bitter – und Gedanken an Rache können sich in mir festsetzen (gegen den, der mich gedemütigt hat oder auch gegen jemand anderen, der nichts mit meiner Verletzung zu tun hat).

Unser Gleichnis ist kein abstraktes Beispiel. Wenn wir uns unsere Welt ansehen, so finden wir reichlich Beispiele für dieses psychologische und spirituelle Geschehen. Menschen, die nicht er­fahren haben, dass ihre Wunden heilen, fügen anderen Wunden zu. Im Verhalten vieler Führer  der Staaten südlich der Sahara erkenne ich diese Muster. Ich wage zu behaupten, dass es das Verhaltensmuster des heutigen Israels ist. Die Erfahrung von Vergebung und Heilung geschieht nicht von alleine. Dass Menschen Land gegeben wurde und die Möglichkeit, eine Nation zu errich­ten, bewirkt keine automatisch erfolgende Heilung ihrer Wunden. Heilung von Wunden, ob bei ein­zelnen Menschen oder bei Nationen, bedarf einer bewussten spirituellen Anstrengung.

(Heute ist der 10. Jahrestag der Ereignisse des 11. September 2001. Hat der Kampf gegen den Terror die Welt nun sicherer gemacht, oder hat er noch mehr Gewalt erzeugt? Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Wenn Elefanten wild werden, muss das Gras darunter leiden. Selbst wenn wir bei den Sicherheitschecks die Schuhe ausziehen, können wir vor Terroranschlägen nicht sicher sein. Die Welt bleibt unsicher!)

Es gibt aber ein gutes Beispiel für das Bemühen, nationale Versöhnung zu fördern. Ich meine, das großartige Projekt von Nelson Mandela und Desmond Tutu in Südafrika in den 1990er Jahren. Es wurde durchgeführt von so genannten ‘Wahrheits- und Versöhnungs-Kommissionen’.

Etwas zu erhalten, bedeutet nicht, dass es auch innerlich angenommen wird. Was um dich herum geschieht, muss nicht zu deiner inneren Erfahrung werden. Politische Freiheit bewirkt nicht not­wendig innere Freiheit des Einzelnen und der Nation. Ja, die Erfahrung von Vergebung und Hei­lung verlangt nach persönlicher und kollektiver bewusster Anstrengung. Die innere Heilung ist ein Vorgang, der unterstützt werden muss.

Im spirituellen Bereich schließlich – und ich meine, dass darin der Kern des heutigen Evangeliums liegt – sollten wir uns dieses sagen lassen: Gott vergibt uns bedingungslos immer wieder. Aber wird uns dieser Satz auch zu einer inneren Erfahrung? Gott bietet sogar Vergebung an, ohne dass er darum ge­beten wird. Aber nehmen wir das ernst? Jesus weist darauf hin, dass unsere Erfah­rung der Verge­bung Gottes unlöslich mit unserem Willen, auch unseren Brüdern und Schwestern zu verzeihen, verbunden ist. Hier handelt es sich sozusagen um zwei Momente in der einen Erfah­rung der Hei­lung.

Sahaya G. Selvam, sdb

Übersetzung Alfons Nowak