Jesus, der gute Hirte, ist die Tür zum Leben in Fülle

4. Sonntag nach Ostern – Jahr A

Wenn man die Seiten des Alten Testamentes durchblättert, sieht man, dass Gott eine unbestreit­bare Vorliebe für Hirten hat: Abel, Abraham, Jakob, Moses, David, der Prophet Amos und noch viele mehr. In der jüngeren Geschichte ist es Don Bosco, der Gründer meines Ordens, der ein Hir­tenjunge war! Es scheint, dass Gott eine besondere Vorliebe für Hirten hat, weil ihre Aufgabe darin be­steht, treu für die ihnen Anvertrauten zu sorgen. Bei der Sorge für ihre Herde, für die ihnen an­vertrauten Menschen, können sie sogar selbst in Gefahr geraten.

Am heutigen Sonntag, dem 4. Sonntag nach Ostern, begehen wir das Fest des Guten Hirten. Wir denken an die ‘pastorale’ Liebe – die Liebe eines Hirten – die Gott für uns hat und die in Jesus sichtbar wurde. Außerdem beten wir um Priesterberufe. Die Priester sind die ‘Pastoren’, die Hirten, der Kirche. Jedes Jahr hören wir an diesem Tag Abschnitte aus dem 10. Kapitel des Johannes­-Evangeliums, in dem Jesus zwei weitere seiner ‘Ich bin’-Aussagen macht: ‘Ich bin die Tür’ (Joh 10, 9) und ‘Ich bin der gute Hirte’ (Joh 10, 11).

Auf drei Aspekte des heutigen Evangeliums möchte ich hinweisen.

1. Ich bin die Tür

„Ich bin die Tür zum Schafstall (Joh 10, 7); „“Ich bin die Tür“ (Joh 10, 9).

Das Bild erscheint fremd. Wir wollen uns einige Details ansehen, um die tiefere Bedeutung zu er­fassen, die Jesus meint. Für Hirten ist es üblich, die Schafe abends in einem Pferch zu sammeln – so machen es z.B. die Massai in Afrika noch heute. Der Pferch ist ein kreisförmiger Bezirk drau­ßen, der von dornigem Gestrüpp umgeben ist. Normalerweise ist es ein schmutziger, übel riechen­der Ort. Er hat gewöhnlich nur einen engen Eingang, der mit kräftigen Ästen verbarrikadiert wird. Am Ende des Tages, wenn die Hirten ihre Schafe zum Pferch bringen, lassen sie die Schafe ein, indem sie sie zählen, um sicher zu gehen, dass keines fehlt. Dann werden die Äste wieder vor dem Tor angebracht, und einer oder zwei der Hirten legen sich, nachdem sie gegessen haben, zum Schlafen direkt außerhalb des Pferchs vor das Gatter und blockieren so den Eingang. Wenn wilde Tiere, wie Hyänen, oder Diebe in den Pferch wollen, müssen sie über die Hirten hinweg stei­gen, um zum Tor zu gelangen. Das ist die übliche Weise, Schafe nachts zu bewachen.

Jesus entlehnt dieses Bild aus dem Hirtenleben und erweitert es. Er sagt, „Ich bin das Tor“. Er sagt nicht, ich bin der Hirte, der am Tor schläft, um die Schafe zu bewachen – das wäre das Normale. Er aber sagt, „Ich bin das Tor.“ Das ist das Neue, Ungewöhnliche. Er ist nicht bloß der Wächter der Herde. Er ist der Weg zur Gemeinschaft der Gläubigen.

Diese Erklärung gibt Jesus im 10. Kapitel des Johannes­-Evangeliums ab. Zur Zeit der Entstehung des Johannes­-Evangeliums wuchs die Gemeinschaft der Jünger langsam, aber stetig. Und es gab sicher Menschen in ihr, die keine persönliche Begegnung mit Jesus mehr gehabt hatten. Und es gab vermutlich andere, die Mitglied der Gemeinschaft werden wollten – die in den Pferch wollten –  aber nicht wussten wie. In diesem Zusammenhang ist die Aussage Jesu einfach und klar: „Ich bin die Tür.“ Es ist, als wenn er sagen würde: „Niemand kann zu diesem Pferch gehören, niemand kann die Vorzüge dieser Gemeinschaft genießen, wenn er nicht eine persönliche Begegnung mit mir hatte.“

2. Die Fülle des Lebens

„Da­mit sie das Leben haben und dass sie es in Fülle haben“ (Joh 10, 10)

Welche Folgen hat die persönliche Begegnung mit Jesus? Ist es nur dies, dass man dadurch zum Mitglied einer Gemeinschaft wird? Das Mitglied irgendeiner Gemeinschaft zu sein, der Teil eines Pferchs zu sein, bedeutet noch nichts Besonderes. Es könnte die Gemeinschaft um einen Dieb sein, aber „der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu töten und zu zerstören“ (Joh 10, 10a). Demge­genüber bewirkt die Erfahrung Gottes in Jesus, dass Leben entsteht: „Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und dass sie es in Fülle haben“ (Joh 10, 10b).

In der Gegenwart Jesu gibt es immer Fülle.

  • Bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2, 1-11), wo Jesus Wasser in Wein verwandelte – Jesus hatte sich noch nicht zu erkennen gegeben – herrschte große Leere: sechs leere Wasser­krüge! Als Jesu Stunde gekommen war, waren die Krüge bis zum Rand gefüllt, 180 Gallo­nen, das sind in US-Gallonen 681, in Britischen Gallonen 818 Liter Wein von bester Quali­tät.

Beim Speisungswunder der Vielen (Joh 6, 1-71) herrscht Hunger, bevor Jesu Macht sich er­wiesen hat. Es ist da nur ein kleiner Junge mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen. Nach­dem Jesus die Fünftausend gespeist hat, gibt es 12 große Körbe mit dem, was übrig ge­blieben ist.

Was ist die Fülle des Lebens, von der Jesus spricht? Ist damit das Leben im Himmel gemeint? Ja, es gehört dazu. Aber jemand, der Gott in Jesus erfahren hat, wird beschenkt mit dem Geheimnis einer inneren Vitalität – mit dem Erleben von Heiterkeit, Frieden und neuer Energie. Die Osterzeit ist wieder einmal eine besondere Einladung, uns auf Jesus zu konzentrieren, damit wir Leben ha­ben und damit wir es in Fülle haben.

Jesus fasst diese beiden Aspekte, mit denen wir uns bis hier befasst haben, in der Aussage zu­sammen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6).

3. Fühle ich mich zu Gott hingezogen, oder fühle ich mich von ihm bedrängt?

„Er geht seinen Schafen voran, und seine Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme“ (Joh 10, 4).

Wie antworten wir der Einladung Gottes, die er in Jesus, dem guten Hirten, ausgesprochen hat? Fühle ich mich zu ihm hingezogen, oder fühle ich mich durch Gott bedrängt? Ich will dazu ein Bild aus dem Buch ‘Wegweiser’ von Margaret Silf gebrauchen.

Ein Schäfer kann entweder vor seinen Schafen herlaufen, dann lockt er sie und leitet sie auf diese Weise. Oder er kann hinter den Schafen hergehen und sie vor sich hertreiben. Dann muss er sie stoßen und vorwärts schubsen. Er kann die Schafe sozusagen vorwärts ziehen, oder er kann sie vorwärts treiben. Wie geht es dir mit Gott? Fühlst du dich zu ihm hingezogen oder fühlst du dich von ihm be­drängt?

Wenn ich mich durch Gott bedrängt fühle, wenn ich Gott als fordernd erlebe, dann werde ich an­nehmen, dass mein Heil – mein ‘Leben in Fülle’ – davon abhängt, ob ich die Gebote und Regeln be­folge. Ich werde annehmen, dass ich ‘gut’ sein muss, damit ich Gottes Liebe verdiene. Das heu­tige Evangelium aber lädt uns ein, die bedingungslose Liebe Gottes zu erfahren. Sie wird sichtbar in dem Guten Hirten, der sein Leben für uns dahingibt – auch wenn wir Sünder sind (Röm 5, 6).

In Joh 10, 4 heißt es: „Wenn er alle, die zu ihm gehören, herausgebracht hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme.“ Gott zieht mich zu sich hin durch seine Liebe. Ich kann entscheiden, ob ich nicht gezogen werden möchte, ob ich ihm nicht folgen möchte. Er möchte, dass ich ihm folge. Wenn ich mich aber anders entscheide, so respektiert er das. Es ist schön, zu ihm hingezogen zu werden, denn es entspricht dem, wonach meine Seele verlangt. Wenn ich ihm folge, so ist das gut für mich, weil es das ist, was mich wirklich glücklich macht. Es ist das, was mich die Fülle des Lebens finden lässt.

Möge die Erfahrung der Liebe Gottes in Jesus für uns eine Realität werden, besonders während dieser Osterzeit, „damit wir Leben haben und damit wir es in Fülle haben“!

Sahaya G. Selvam, SDB, Nairo­bi, 15. Mai 2011

Übersetzung Alfons Nowak

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