Darum seid vollkommen

“Darum seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.” Mt 5, 48

7. Sonntag im Jahreskreis A

Dachau war das erste Konzentrationslager der Nazis, ein Lager für Zwangs­arbeiter. Heute ist Da­chau eine öffentliche Gedenkstätte. Es gibt dort mehrere Kirchen und eine Synagoge. Bei mei­nem Besuch dort im letzten Sommer hat mich die Kirche der Versöhnung am meisten beein­druckt. Die Besonderheit dieser Kirche besteht darin, dass es in ihr keine rechten Winkel gibt. Die unregel­mäßige Form ist ein symbolischer Protest gegen den Ordnungssinn des Lagers mit seinen in Rei­he und Glied erbauten Ge­bäu­den. Als ich die Gedenkstätte verließ, war mir deutlich, dass übertrie­bener Sinn für Ordnung Zeichen einer Neurose ist. Und dass er zur Lebensbedrohung werden kann.

Im Verlauf der Bergpredigt, aus ihr ist das heutige Evangelium entnommen, wiederholt Jesus im­mer wieder den Satz; “Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist” (Mt 5,48). Mit anderen Worten: Jesus lädt uns ein, Gott selbst nachzuahmen, und in den Worten des Evangelisten Mathäus wird daraus die Forderung: Vollkommen zu sein! Was meint Jesus damit? Was meint ‘Vollkommen sein’?

Es ist leicht, Vollkommen sein als eine gesetzliche Forderung misszuverstehen. Bei dem Ver­such, vollkommen zu sein, können gerade die glühendsten Anhänger davon besessen werden, Ordnung zu schaffen, in sich und in anderen. Das sind die ‘Heiligen’, mit denen man nur schwer zu­sammen­leben kann. In christlichen Gemeinschaften neigen solche Menschen dazu, intolerant zu sein und  vorzugeben, genau zu wissen, was christliches Leben bedeutet. Sie reduzieren christliches Leben auf die Einhaltung von Gesetzen und die Befolgung von Vorschriften. In der Tat, wenn ich in mich schaue, auch in mir gibt es solche Tendenzen. Ich kann nachvollziehen, dass es eine Ver­suchung ist, die tiefen Wahrheiten, die Jesus uns nahegebracht hat, auf ein paar einfache Regeln und Vorschriften zu reduzieren.

Durch alle Jahrhunderte war es des Ehrgeiz von Mathematikern und Wissenschaftlern, Naturkon­stanten des Universums zu entdecken, wie z.B. Pi und Lambda. Diese Konstanten, einschließlich der Naturgesetze, nutzt man, um ein von Ordnung und Perfektion geprägtes Universum zu po­stu­lieren. Für viele Aspekte der physikalischen Welt ist dies richtig, doch gehören auch Zu­falls­pro­zes­se und Unvorhersehbares zur Natur des Universums, in dem wir leben. Und dennoch, diese Zu­falls­prozesse sind nicht ohne Ordnung und nicht ohne Sinn. Ein Beispiel: Derselbe Zufall, der wäh­rend der Zellteilung für die Triggerung der Vermehrung von bösartigen Zellen ver­ant­wortlich ist, ist auch für die Mutationen verantwortlich, die den Prozess der Evolution weiterführen. Mit an­de­ren Worten, auch in der physikalischen Welt bedeutet Vollkommenheit nicht unbedingt die Not­wendig­keit, die so genannten ‘Naturgesetze’ einzuhalten. Schönheit in der Natur ist nicht an Sym­metrie und Ordnung gebunden. Die meisten Bäume und Blumen trotzen der vollkommenen Sym­metrie – eine Ausnahme machen die in den Gewächshäusern in Kenia produzierten – und sie sind dennoch schön. Wenn ich die Akazien in den Savannen Ost-Afrikas betrachte, weiß ich, dass der Eindruck von Harmonie nicht durch symmetrische Formen vermittelt wird, sondern dass dieser Eindruck aus der tiefen Ver­wurzelung herrührt.

Also; was heißt dann vollkommen sein? Was meint Jesus, wenn er uns einlädt, die Vollkommen­heit seines Vaters nachzuahmen?

Vollkommen sein heißt Heilig sein

Das Matthäus-Evangelium sieht sich in der Jüdischen Tradition, die es weiter fort­führen will. So kann man die Stelle Mt 5, 48 leichter verstehen, wenn man sie im Licht der zuerst gehörten Le­sung aus dem Buch Levitikus ansieht. Es scheint, dass Jesus ein Wort wiederholt, dass bereits in der To­rah geschrieben steht: “Seid heilig; denn ich, euer Herr und Gott, bin heilig” (Lev 19, 2). Danach kann man Vollkommenheit einfach als Heiligkeit verstehen. Ganz einfach! Gerade so hat das 2. Vatikanische Konzil über ‘den universalen Ruf zur Heiligkeit’ gesprochen. Es bedeutet, dass Heilig­keit eine Aufgabe und ein Geschenk für jedermann ist, nicht nur für die Menschen in der Kirche, son­dern für jeden, der Jesus nachfolgt. Mit anderen Worten, der ‘Ruf zur Heiligkeit’ sagt in einfa­che­rer Weise das gleiche aus, was Jesus mit seinem Ausruf meint: “Ihr sollt voll­kommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist”.

Aber was ist Heiligkeit überhaupt? Und auch hier noch einmal. Das Verständnis von Heiligkeit ris­kiert, in den Teufelskreis von Disziplin, Ordnung und Gesetzestreue zu geraten. Ich würde Heilig­keit in den Begriffen Ganzheit, Integration, Gesundheit und Wohlbefinden verstehen. Der Evan­ge­list Lukas, hat es in einem einfachen, aber tiefgründigen Satz zusammengefasst, als er über das Heranwachsen Jesu spricht: “Und Jesus nahm zu an Weisheit und an Wuchs, an Wohlgefallen vor Gott und den Menschen” (Lk 2, 52). Für mich spricht Lukas hier von den vier As­pekten des mensch­l­ichen Wachsens. von der intellektuellen, der physischen, der spirituellen und der sozio-emotionalen Dimension. Für mich macht das Wachsen in diesen vier Aspekten Heiligkeit aus. Und natürlich ist dieses Wachsen ein Prozess und eine lebenslange Aufgabe.

Vollkommen sein heißt Barmherzig sein

Eng verbunden damit und auch nicht weit entfernt von dem Verständnis von Vollkommenheit als Heiligkeit ist die Version des Lukas von Jesu Ausruf, den wir gerade reflektieren: “Seid mitfühlend, wie euer Vater mitfühlend ist” oder in einer anderen Übersetzung, “Seid barmherzig, wie euer Va­ter barmherzig ist” (Lk 6, 36).

Und was ist die Barmherzigkeit Gottes? Mathäus führt es im heutigen Evangeliumstext weiter aus: “Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und er lässt regnen über Gerechte und Un­ge­rechte (Mt 6, 45).

Im Reich Gottes, das auf Barmherzigkeit aufgebaut ist, gibt es eine liebende Toleranz der Unord­nung und sogar des Bösen, zumindest eine gewisse Zeit lang: das Unkraut darf mit dem Wei­zen wach­sen (Mt 13, 24-30); der Baum, der keine Früchte getragen hat, bekommt noch einmal die Ge­legenheit zu wachsen und Früchte zu tragen (Lk 13, 6-9). Und die Menschen im Reich Gottes wer­den nicht nach dem Grundsatz vergeltender Gerechtigkeit, sondern auf Grund reiner Großzü­gig­keit belohnt (Mt 20, 1-16). Es scheint vom Zufall abzuhängen, dass die Entscheidung so ausfällt – dass die Letzten die Ersten sein werden – tatsächlich ist sie aber allein das Ergebnis von Barm­her­zigkeit.

Das ist die Vollkommenheit, zu der wir eingeladen sind. Für mich fände ich es einfacher, in mei­nem Leben einigen klar formulierten Regeln folgen zu können. Aber Jesus sagt mir, Vollkom­men­ sein geht über Regeln hinaus. Vollkommen sein braucht Barmherzigkeit; denn Barmherzigkeit er­mög­licht Wachstum von Leben. Und das, finde ich, ist doch eine großartige Herausforderung!

Sahaya G. Selvam, SDB

Übersetzung Alfons Nowak

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