22. Sonntag im Jahreskreis – Lesejahr B

22. Sonntag im Jahreskreis – Lesejahr B

Von Religiöser Tradition zu Religiöser Spiritualität

Dt 4, 1-2.6-8; Jk 1, 17-18.21b-22.27; Mk 7, 1-8.14-15.21-23

Einige neue populäre Bücher mit Titeln wie ‘Warum Gott nicht verschwinden wird’, ‘Gott ist wieder da’, ‘Neues religiöses Amerika’ erwecken den Eindruck, dass der Säkularismus als soziales Phänomen im Niedergang begriffen sei. Vielleicht sind sie ein Zeichen, dass die Menschen ihrer pubertären Rebellion gegen Gott entwachsen. Was aber viel bedeutender ist und von religiösen Menschen wahrgenommen werden sollte, ist das schnelle Anwach­sen eines neuen Typs von Spiritualität – einer Spiritualität, die sich nicht bindet. Dieses zeigt eine neue Studie, in der sich 40% der Amerikaner und 20% der befragten Deutschen als ‘spirituell, aber nicht religiös’ bezeichnet haben. Daraus kann man schließen, dass der Säkularismus keine Rebellion gegen Gott, aber eine Rebellion gegen die institutionellen Religionen war.

Es ist zu einem Auseinanderdriften von zwei Wegen gekommen, auf denen man sich Gott und den großen Fragen des Lebens zuwendet. Und manchmal scheint es, als ob sich die­se beiden Wege ausschließen: Religion und Spiritualität. Der Trend sagt, dass die indivi­duelle, erfahrungs-orientierte Spiritualität der strukturierten institutionellen Religion überle­gen ist.

Wenn ich die Evangelien lese, frage ich mich manchmal: „Rebelliert nicht auch Jesus selbst gegen die institutionelle Religion seiner Zeit?“ In der Tat, Jesus fordert die Religion , in die er geboren ist, ständig heraus. Aber er tut es aus dem Inneren der Religion heraus. Er geht in die Synagoge und liest die Schriften. Er befolgt die wesentlichen Forderungen des Sabbats. Er wird Rabbi genannt und lehrt im Tempel. Er feiert die Feste seiner Religi­on und bezahlt die Tempelsteuer. So können wir sicher sein, dass sich Jesus nicht als ‘spi­rituell, aber nicht religiös’ bezeichnet hätte.

Auf der anderen Seite war Jesus keiner, der blind und ohne nachzudenken, alles mitmach­te, was Religion und Gesellschaft von ihm verlangten. Nein, er forderte die Religion her­aus. In unseren Worten könnte man sagen, Jesus setzt sich für eine ‘religiöse Spiritualität’ ein. Er zeigt uns, wie man in einer religiösen Tradition spirituell sein kann.  Da wir Men­schen Gemeinschaftswesen sind, ist es für uns von Bedeutung, auch Gott in Gemein­schaft zu suchen. Eine Gemeinschaft, die ernsthaft nach Gott sucht, bedeutet für die Su­che jedes Einzelnen eine erhebliche Ermutigung. Die Gemeinschaft hilft uns, unseren ei­genen Gotteserfahrungen zu trauen und hilft uns, die Bedeutung eigener Erfahrungen zu unterscheiden. Einer Gemeinschaft anzugehören bedeutet, in ihrer Geschichte, ihrer Tra­dition, in ihren Eigenarten zu leben. Jesus lädt uns ein, diese Traditionen ständig darauf hin zu prüfen, ob sie ihrem ursprünglichen Ziel immer noch dienen, nämlich dem, die Er­fahrung Gottes zu vermitteln. Wenn die Erfahrung Gottes im Zentrum unseres religiösen Tuns steht, dann leben wir ‘Religiöse Spiritualität’.

Im heutigen Evangelium sagt Jesus, dass wir nicht den Willen Gottes beiseite schieben und uns nach menschlichen Maßstäben richten sollen (Mk 7, 8). Manchmal ist es nicht leicht zu unterscheiden, was Wille Gottes und was menschliche Tradition ist. In den institu­tionellen Religionen wird der Wille Gottes oft in Begriffen der Tradition und der Kultur aus­gedrückt. Im christlichen Erbe zum Beispiel ist oft nicht leicht zu unterscheiden, was Offen­barung Gottes und was Hebräische, Griechische oder Römische Tradition ist. Will man sich von allem befreien, was Römisch ist, so kann man zum Opfer heutiger zeitgebunde­ner Philosophie und Kultur werden. Die Spiritualität, die sich nicht binden will, ist ein Pro­dukt der modernen westlichen Kultur des Individualismus.

Wie kommen wir weiter? Wie kann man heute religiöse Spiritualität leben? Wie kann man im Sinne Christi leben?

Ich schlage vor, sich nach drei Kriterien zu richten. Diese kann man aus den Lesungen des heutigen Tages ableiten. Sie helfen uns, im Sinne von religiöser Spiritualität zu leben.

Kontemplation

Das Alte Testament spricht oft davon, das Gesetz zu halten und es zu praktizieren. Es er­scheint wie zwei Dinge, wobei das zweite eine Folge des ersten ist. In der heutigen Le­sung heißt es: „Haltet es und setzt es in die Tat um. Dann werden die Menschen eure Weisheit und eure Vernunft bewundern“ (Dt 4, 6). Deutlicher ist eine andere Stelle im Buch Deuteronomium:

„Höre Israel. Ein Gott ist Jahwe, euer Gott. Ein einziger Gott. Du sollst Jahwe deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele , mit allen deinen Kräften. Hal­tet diese Wort, die ich euch heute verkünde, fest in euren Herzen“ (Dt 6, 4-6).

Wenn Jesus ausdrücken will, dass etwas von großer Bedeutung ist, dann spricht er vom Herzen (Mk 7, 21). Für mich ist dieses eine Erinnerung daran, dass Religion eine Sache des Herzens ist. Das gute Tun ist eine Folge der Besinnung auf Gott und auf das, was Gott für gut hält. Dieses geschieht in unserem Herzen. Wahre Religion hört auf das Herz.

Integrität

Ein Wort, das heute in den Lesungen auftaucht, ist ‘Wahrheit’. Psalm 15 lehrt in Form ei­nes Gebetes, was Gott vom Menschen will. Er beginnt mit einer Frage: „Herr, wer darf auf deinem Heiligen Berg wohnen?“ Die Antwort lautet: „Wer untadelig lebt und das Rechte tut, wer von Herzen die Wahrheit spricht.“ Der zweite Aspekt einer wahren Religion ist In­tegrität oder Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit im Denken, im Wort und in der Tat, das ist In­tegrität. Religiöse Spiritualität zeigt sich in persönlicher Integrität.

Mitleid

Den dritten Aspekt wahrer Religion zeigt uns die Lesung aus dem Jakobus-Brief. Hier heißt es: „Wahrer und reiner Dienst vor Gott besteht in diesem: Den Witwen und Weisen in ihrer Not beistehen und sich nicht am ungerechten Treiben dieser Welt beteili­gen“ (Jk 1, 27). Integrität, Wahrhaftigkeit entsteht durch die Besinnung auf Gott und seinen Willen in unseren Herzen. Mitleid mit unserem Nächsten ist der konkrete Ausdruck dieser Wahr­haftigkeit. Mitleid ist eine Folge von Kontemplation und Integrität.

Kontemplation, Integrität und Mitleid bilden den Kern von religiöser Spiritualität. Durch diese Werte ist Religion auch heute in einer säkularen Gesellschaft von großer Bedeu­tung. Sie sind das Herz von Jesu Leben und Botschaft. Mögen diese Werte auch in den Herzen und Leben der Nachfolger Jesus wirksam sein!

Sahaya G. Selvam, sdb

Nairo­bi, 2. September 2012

Übersetzung Alfons Nowak