23.Sonntag – Der Christ und seine prophetische Aufgabe

Der Christ und seine prophetische Aufgabe

23. Sonntag im Jahreskreis A (Ez 33, 7-9; Mt 18, 15-20)

Sieht sich ein Tier einem Feind oder einem Angreifer gegenüber, stehen ihm drei Verhaltensweisen zur Verfügung: Flucht, Kampf oder Totstellreflex. Ein Hase läuft bei Gefahr fort, ein Beispiel für Flucht. Eine Schlange wird bei Ge­fahr auch zunächst zu fliehen versuchen. Wird sie daran gehindert, greift sie an und setzt ihr Gift ein, ein Beispiel für Kampf. Die Schildkröte hat keine Waffen und kein Gift, auch kann sie nicht schnell laufen, so bleibt ihr keine andere Wahl, als sich in ihren Panzer zurückzuziehen und sich tot zu stellen.

 Auch wir Menschen haben diese Möglichkeiten, wenn wir in unangenehme Situa­tionen geraten. Wie verhalten Sie sich in Konfliktsituationen, sei es im täglichen Leben oder auch bei einem Konflikt in ihrer Pfarrgemeinde? Stellen Sie sich fol­gende Situation vor: ein Treffen, mit dessen Verlauf Sie ganz und gar nicht ein­verstanden sind. Da spricht jemand, dessen Meinung Sie absolut nicht teilen kön­nen. Wie würden Sie reagieren?  Würden Sie die Versammlung verlassen? Das wäre die Fluchtreaktion.  Oder würden Sie aggressiv und streitsüchtig rea­gieren? Das wäre die Kampfre­aktion.  Oder würden Sie sich zurückziehen, gar nichts mehr sagen, nach außen den Eindruck erweckend, Sie seien vollkommen gelas­sen, obwohl Sie sich in Wirklichkeit schrecklich ärgern? Das wäre der Tot­stellre­flex.

Dies sind die vorgegebenen Verhaltensweisen, die uns unser Instinkt zur Verfü­gung stellt. Aber wir Menschen haben zum Glück eine vierte Möglichkeit: den Dialog. Wir haben das Geschenk unserer Verstandes, um uns mit anderen zu verständigen. Außerdem sind wir in der Lage, den Weg  zum Herzen des ande­ren zu finden. Der Weg des Dialogs setzt voraus, dass in uns das Urvertrauen in das Gute der menschlichen Natur erhalten geblieben ist; ein Vertrauen, das vor­aussetzt, dass andere denken fühlen und können wie ich.

Die prophetische Aufgabe

Das heutige Evangelium erwartet von uns prophetisches Handeln. Aber was heißt das? Viele negative Assoziationen tauchen auf. Andere zurechtweisen, vielleicht unter Verlust der Selbstkontrolle? Eigene ungelösten inneren Konflikte auf andere projizieren? Meine unbedeutende Weltsicht anderen überstülpen?

In der ersten Lesung (Ez 33, 7-9) spricht Ezechiel über seine ihm von Gott erteil­te prophetische Mission: “Ich habe dich zu einem Wächter für das Haus Israel eingesetzt. Das, was du aus meinem Munde hörst, musst du ihnen als Warnung sagen. Wenn ich dir ankündige, dass ein bestimmter Mensch wegen seiner schlimmen Taten sterben muss, dann bist du dafür verantwortlich, dass er ge­warnt wird. Versäumst du das, so wird er zwar sterben, wie er es verdient, aber ich ziehe dich dafür zur Rechenschaft wie für einen Mord. Warnst du ihn und er hört nicht darauf, so wird er ebenfalls sterben, wie er es verdient hat; du aber hast dein Leben gerettet.” Mit anderen Worten: Hast du ihn gewarnt und er än­dert sein Leben nicht, so trägst du keine Verantwortung für seine Entscheidung.

Im heutigen Evangelium sagt uns Jesus, wie so etwas geschehen kann; wie wir in seiner Nachfolge unsere prophetische Aufgabe, unsere Wächterfunktion erfül­len können; wie wir mit unchristlichem Denken und Verhalten in unseren Ge­mein­den umgehen können. Es ist wichtig wahrzunehmen, dass Jesus in dem heut­igen Text (Mt 18, 21-35) nicht von einem persönlichen Vergehen gegen mich spricht. – Das ist das Thema der nächsten Episode im Matthäus-Evan­ge­li­um (18, 21-35). Im Falle einer persönlichen Verletzung erinnert Jesus ganz ein­fach an die Bereitschaft zu vergeben (siehe auch Lk 17,3). – Im heutigen Text sagt Jesus: “Wenn dein Bruder unrecht getan hat…” (Mt 18, 15). Seine Unterwei­sung folgt unmittelbar auf die Geschichte vom guten Hirten, der sich auf die Su­che nach dem verlorenen Schaf macht. Jesus lädt uns ein, wie ein guter Hirte auf die Su­che nach unseren verlorenen Brüdern und Schwestern zu gehen.  Wie kann das geschehen? Jesus schlägt eine Drei-Schritte-Strategie vor:

Die Drei-Schritte-Strategie

Schritt 1: Von Mensch zu Mensch

Als ersten Schritt schlägt Jesus das persönliche Gespräch vor: “Geh und sprich mit ihm allein, nur ihr zwei” (Mt 18, 15). Dieser Schritt setzt voraus, dass wir in Ruhe überlegt haben, was wir zu dem, was wir für falsch halten, vorbringen wol­len. Das ist ein nüchtern geplanter Dialog, keine Reaktion aus einem plötz­lichen Ärger heraus. Dieser Schritt braucht sorgfältige Planung und fordert viel Mut. Für mich persönlich ist solch ein Dialog eine große Herausforderung. Viel leichter fällt es mir, allgemein Fehlentwicklungen in der Gemeinschaft zu kritisieren oder plötzlich wie eine Rakete hochzugehen, wenn mir etwas gegen den Strich geht. Im Gegensatz zu solch einer Verhaltensweise lädt Jesus ein, das zu entwi­ckeln und zu nutzen, was in meinen menschlichen Möglichkeiten angelegt ist – das Ge­schenk meiner Vernunft zu gebrauchen und die Fähigkeit, mich in andere ein­füh­len zu können, zu benutzen. “Wenn er dir zuhört, hast du deinen Bruder zu­rück­gewonnen” (18, 16).  Nach meiner Erfahrung funktioniert dieser Schritt in den mei­sten der Fälle. Voraussetzung ist, dass der, der das Gespräch sucht, Weis­heit, Liebe und innere Freiheit in sich wirken lässt. Ich gehe im weiteren noch darauf ein.  Sollte dieser Schritt keinen Erfolg gehabt haben, kommt der nächste Schritt an die Reihe.

Schritt 2: Ziehe andere Vertraute hinzu

“Wenn er dir nicht zuhört, nimm einen oder zwei andere hinzu…” (Mt 18, 16). Je­sus zitiert hier die Thora (Dt 19, 15-16). Dieser Schritt ist aber auch aus einem anderen Grunde wichtig. Er ist notwendig, um sich selbst noch einmal klar zu wer­den, ob man richtig liegt mit dem, was man für falsch hält. Habe ich mir viel­leicht nur etwas eingebildet? Bin ich einem Vorurteil erlegen? Oder verfolge ich hier ei­ne persönliche Rache? Die beiden anderen werden dir helfen, darüber Klarheit zu bekommen. Und wenn deine Meinung vernünftig und christlich ist, dann wer­den sie dir beistehen, um den Verirrten auf den rechten Pfad zurückzu­führen. Ein verlorenes Schaf kann man leichter finden, wenn drei suchen, als wenn einer al­leine sucht. (In unserem Glaubens-Trainingsprogramm für Jugendli­che bevorzu­ge ich ‘Team-Teaching’, Vermittlung von Lernstoff durch ein Team. Ein Thema wird bei einem Treffen mindestens von drei Vortragenden unter ver­schie­denen Aspekten vorgestellt. Die jungen Zuhörer sind viel leichter zu errei­chen und sind eher ge­neigt etwas anzunehmen, wenn ihnen das Thema von drei Per­so­nen nahe ge­bracht wird.)  Allerdings, wenn das auch nicht klappt, brauchen wir eine bessere Strategie.

Schritt 3: Bringt es vor die Gemeinschaft

Das ist die letzte Möglichkeit. Jetzt wird das Verfahren öffentlich und juristisch. In­teressanterweise spricht Matthäus davon, den Fall vor die Gemeinschaft zu bringen (hier ist es die Gemeinschaft der Gemeinde) und nicht nur vor deren Lei­ter. Jetzt kommt es zu Konsequenzen. Entscheidet sich der Einzelne, dem Rat der Gemeinde nicht zu folgen, so kann er auch kein Mitglied der Gemeinde mehr sein. Was Jesus Petrus in Mt 16, 18 gesagt hat, wird hier auf die ganze Gemein­de angewendet.. Der Gemeinde wird die Autorität zugesprochen: „Was ihr auf Erden binden werdet, wird auch im Himmel gebunden sein; und was ihr auf Er­den lösen werdet, wird auch im Him­mel gelöst sein“ (Mt 18, 18)

Diese Schritte, die Jesus hier im Umgang mit einem, der Übles getan hat, vor­zeichnet, sind für mich nicht bloß Teile einer gesetzlichen Prozedur. Ich erkenne in diesen Schritten auch eine Einladung, mich auf einen inneren Wachstumspro­zess einzulassen. Eine Einladung dazu, fähig zu werden, in menschlicher Weise mit jemandem umzugehen, vom dem ich überzeugt bin, dass er etwas falsch macht. Es handelt sich um einen Pro­zess, der mich zu mehr Weisheit, Liebe und Frei­heit füh­ren soll.

Die Charakterstärken eines Propheten

Prophet zu sein – eine Wächterfunktion in der Gemeinschaft wahrzunehmen – ist ein Ruf, der uns alle angeht. Es ist ein Ruf, der an das Vorhandensein ge­wisser Charaktereigenschaften gebunden ist. Um Jesu Worten entsprechen zu können, muss ich an Weisheit, Liebe und Freiheit wachsen.

1. Weisheit

Wie ich schon oben sagte, handelt dieser Text nicht von persönlichem Vergehen an mir, sondern von schlechtem Tun im allgemeinen. Wie beurteilt man nun, was gut und was schlecht ist? Kann ich mir ein Urteil überhaupt erlauben? Ist das, was man für schlecht hält, nicht lediglich ein Ergebnis von Kultur und Erziehung? Auf jeden Fall sollte ich mein Urteil mit Vorbehalt betrachten. Um nicht irre zu ge­hen, muss ich mein Urteil ausreichend in Stille und Nachdenken reifen lassen. Das bedeutet, dass ich dem Wachstum von Weisheit in mir Raum gebe.

2. Liebe

Thomas von Aquin betet: „Herr, lass mich in meinem Eifer, die Wahrheit zu lie­ben, die Wahrheit der Liebe nicht vergessen.“ In der zweiten Lesung von heute lädt Paulus uns im Brief an die Römer ein: „Bleibt keinem etwas schuldig – außer der Schuld, die ihr nie abtragen könnt: der Liebe“ (Röm 13, 8). An anderer Stelle sagt Paulus: „Wir können darauf bauen, dass der Herr uns wirklich liebt, und wol­len ihm entgegenwachsen in allen Dingen. Denn er ist das Haupt…“ (Eph 4, 15).

3. Innere Freiheit

Weisheit und Liebe sind eng mit innerer Freiheit verbunden. Wenn ich ein schlech­tes Verhalten an jemandem festzustellen meine, sollte ich mich immer fragen, ob ich nicht überreagiere, ob das Verhalten dieser Person mich nicht an meine eigene Schatten erinnert – an die Neigungen in mir, mit denen ich immer kämpfe und die ich am liebsten nicht wahrhaben möchte? Erinnere dich daran, was Jesus dazu gesagt hat: „Warum kümmerst du dich um den Splitter im Auge deines Bruders und bemerkst nicht den Balken in deinem eigenen?… Ziehe erst den Balken aus deinem Auge, (dann erst kannst du klar sehen) und dich um den Splitter im Auge deines Bruders kümmern“ (Mt 7, 3-5).

Übersetzung Alfons Nowak